Despotismus im Nahen Osten – in Vergangenheit und Gegenwart - Dezember 2021

Veröffentlicht: Mittwoch, 22. Dezember 2021 17:07

 

Ein Geleitwort zu Abdulrahman al-Kawakibi: Von Naturen des Despotismus und Fatalitäten der Versklavung, übersetzt von Emad Alali

Als Abdulrahman al-Kawakibi seine Schrift gegen den Despotismus veröffentlichte, herrschte in Konstantinopel Sultan Abdülhamit II. Seine Herrschaft war autokratisch. Im Inneren des Reiches entstanden oppositionelle Geheimgesellschaften, die sich gegen eine flächendeckende Überwachung behaupten mussten; die Völker des Balkans suchten das Joch der osmanischen Herrschaft abzuschütteln. Außerhalb des Reiches wachten die europäischen Mächte eifersüchtig darüber, dass die Schwäche des Osmanischen Reiches nicht einseitig zugunsten der einen oder anderen Macht ausfallen würde. In den europäischen Hauptstädten sprach man vom „kranken Mann am Bosporus“, aber sterben ließ man ihn nicht, solange sich alle an seinem Zerfall schadlos halten konnten: auf dem Balkan, im Kaukasus und am Schwarzen Meer sowie in Nordafrika.

Ägypten unterstand nur noch nominell dem Sultan in Konstantinopel. In Aleppo geboren, hatte al-Kawakibis politisches und geistiges Leben weithin im Zeichen seines Konflikts mit der repressiven osmanischen Verwaltung gestanden. 1899 schließlich übersiedelte er nach Kairo um, das seit 1882 unter britischer Herrschaft stand. Hier hat er seine beiden berühmten Traktate veröffentlicht: Umm al-qura, „die Mutter der Städte“; und Taba’i al-istibdad, „die Naturen des Despotismus“ Auch wenn in letzterem die Despotie Abdülhamits nicht explizit genannt wird, so war doch dem Leser klar, was und wer gemeint war. Dass der Arm des Sultans gleichwohl bis nach Kairo gereicht haben mag, klingt in dem Verdacht an, al-Kawakibi sei vergiftet worden (1902).

Al-Kawakibi schreibt in einer Zeit des Niedergangs; und der schreibt aus der Perspektive eines arabischen Untertans des osmanischen Sultans. An der Wurzel des beklagenswerten Zustands des Reichs sieht er die despotische Herrschaft (immer mitzudenken: des osmanischen Sultans). Ihr geht er in seinem Buch in allen politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, religiös-ethischen und moralischen Facetten nach. Despotisch sei eine Herrschaft, wenn „zwischen ihr und der Nation keine anerkannte und unbestreitbare Verbindung, die durch ein geltendes Gesetz geschützt wird, existiert“ (S. 231). Aber der Niedergang des Osmanischen Reichs hat neben der inneren Dimension des Despotismus auch eine äußere Dimension: die Fremdherrschaft europäischer Mächte.  Die Niederländer, Russen, Franzosen und Engländer hätten ein Vakuum entstehen lassen, in welchem die muslimischen Gesellschaften in Erstarrung verfallen sind. Um nur ein Beispiel zu nennen: „Die Franzosen besetzen Algerien seit 70 Jahren und sie haben bis jetzt keine einzige Zeitung genehmigt… Die Franzosen verfolgen die religiösen Menschen und bemühen sich, dass die Religion im gesellschaftlichen Leben an Wirkung verliert. Darauf aufbauend ist ihre Behauptung, dass sie sich um die Religion im Osten kümmern, nur ein Versuch eines Jägers, der seine Beute in die Falle locken will“ (S. 213).

Aber Europa bietet zugleich auch eine Perspektive, die auf einen Ausweg aus Niedergang und Stagnation weist: die politischen Ordnungen auf den Prinzipien von Freiheit und Vernunft zu gründen. Die diesbezüglichen Vorschläge lesen sich fast wie ein Konzept von – in der Sprache der Politikwissenschaft – good governance: „Das Wichtigste, das durch den Fortschritt in der Menschheit erreicht wurde, ist der Schutz der guten und ordnungsfähigen Regierungen“.  Dazu gehört u.a.: das Gesetz vor jeder Macht oder Einflussnahme schützen; die Gesetzgebung in die Hände der Nation zu legen; die Justiz befugt zu machen, „über einen Sultan oder einen Strolch“ mit den gleichen Rechtsmitteln und Rechtsverfahren zu entscheiden; die Arbeiter über ihre Rechte und Pflichten aufzuklären und somit in Stand zu setzen, im Rahmen dieser Rechte und Pflichten zu handeln; und der Nation die Kontrolle und Aufsicht über die Regierung zu übertragen.

In dieser Ambiguität, ja Schizophrenie erweist sich al-Kawakibi als ein Denker der nahda; des „Aufbruchs“ arabischen Denkens im Zeitraum zwischen der Mitte des 19. und den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Al-Kawakibi steht in einer Reihe mit Namen wie at-Tahtawi, Muhammad Abduh, al-Afghani, Raschid Rida und Ali Abd ar-Raziq. Sie alle trieb die Frage um, wie können die muslimischen Gesellschaften zur Augenhöhe mit dem Westen aufsteigen, ohne sich, d.h. ihre Traditionen und ihre Identität zu verlieren? In beidem ist die Religion – bei al-Kawakibi (in der Begrifflichkeit von Emad Alali) die „Islamität“ – von zentraler Bedeutung. Wie lassen sich Islamität und aus Europa stammende Elemente der Modernisierung, hier: der guten Regierungsführung verbinden? 

Fünf Jahre nach dem Erscheinen seiner Schrift gegen den Despotismus schien im Vorderen Orient eine Ära des Wandels anzubrechen. 1906 setzte in Iran eine   Koalition von bürgerlicher Mittelschicht, Basarhändlern, antiimperialistisch gesinnter Geistlichkeit und fortschrittsorientierten Persönlichkeiten aus dem Umfeld der herrschenden Dynastie die Einsetzung einer Verfassung und die Wahl eines ersten Parlaments durch. Zwei Jahre später zwang ein Putsch der Armee, der von dem oppositionellen Komitee für Einheit und Fortschritt (Ittihat ve Terakki Cemiyeti) gesteuert war, Sultan Abdülhamit, die Verfassung wieder in Kraft zu setzen und das Parlament, das 1878 aufgelöst worden war, einzuberufen. Die großen Hoffnungen zerschlugen sich an der Einmischung europäischer Mächte ebenso wie an den Differenzen unter den innenpolitischen Akteuren. Hoffnungen auf einen Neubeginn ihrer Geschichte keimten auch unter den arabischen Nationalisten auf, als die „despotische“ Herrschaft der osmanischen Sultane mit der Niederlage des Osmanischen Reichs im Ersten Weltkrieg ein Ende fand.

Die Ernüchterung ließ nicht lange auf sich warten. England und Frankreich hatten das Fell des Bären unter sich bereits geteilt, bevor er erlegt war. In Paris (wo auch über das Schicksal Europas entschieden wurde) verwirklichten sie ihre Planungen. Als „Mandate“ übernahmen sie die Herrschaft über den Raum zwischen dem Mittelmeer und dem Persischen Golf. Im Maghreb herrschten Frankreich, Italien und Spanien. Die von ihnen gezogenen Grenzen sollten Nationalstaaten markieren. Nicht zu Unrecht bezweifelt Emad Alali, der Übersetzer und Kommentator der Schrift al-Kawakibis, die Legitimität dieser Schöpfungen der europäischen Kolonialmächte; sollten sie doch „prioritär deren kolonialen Interessen dienen und die Bedürfnisse der arabischen Gesellschaften sowie die besonderen Eigenschaften der arabisch-islamischen Kultur kaum berücksichtigen.“ Man könne sogar von einer „Fehlgeburt des arabischen Nationalstaates“ sprechen (S. 23).

Fortan waren die arabischen Eliten zwischen dem Atlantik und dem Indischen Ozean bemüht, die Unabhängigkeit zu erlangen. Aber selbst in den Staaten, in denen dies noch vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs und nach diesem gelang, behaupteten die europäischen Kolonialmächte (und zunehmend auch die USA, die nach dem Zweiten Weltkrieg Zug um Zug eine Vormachtstellung erlangten) ihren Einfluss: Verträge, die namentlich deren wirtschaftliche und sicherheitspolitische Interessen betrafen, wurden Instrumente der Einflussnahme.

Mit Gamal Abd an-Nasir (Nasser) schien 1952 ein neuer Hoffnungsträger die Bühne der arabischen Politik zu betreten. Nicht nur schaffte er ein verrottetes Regime in Ägypten ab. Mit der Verstaatlichung der Suezkanalgesellschaft beendete er auch 1956 definitiv die britische Herrschaft in Ägypten. Eine neue Ära schien angebrochen – dies umso mehr, als die Algerier, die am festesten in die kolonialistischen Strukturen eingebunden waren, gegen Frankreich um ihre Unabhängigkeit kämpften. Über fast zwei Jahrzehnte – von Nassers Revolution bis zur wiederum militärischen Revolution in Libyen 1969 – wurden alte Ordnungen von Kräften hinweggefegt, die vorgaben, eine neue Ordnung im Zeichen von Freiheit, Gerechtigkeit, sozialem Ausgleich und bürgerlicher Teilhabe zu stiften.

Es ist hier nicht der Ort, die Wege aufzuzeichnen, auf denen sie scheiterten, ja ihre Bürger hinter‘s Licht und in neue, „moderne“ Formen der Despotie führten. Die politischen Parteien waren Instrumente der Unterdrückung und des Ausschlusses von Andersdenkenden und Andershandelnden, die marginalisiert oder eliminiert wurden. Ihr Machtanspruch nach innen paarte sich mit politischen Machtkämpfen gegen den Anspruch externer Rivalen um die Vormacht im arabischen Raum. „Konservative“ Regimes, die dem „revolutionären“ Furor der „progressiven Avantgarde“ widerstanden, instrumentalisierten eine rückwärtsgewandte Auslegung der islamischen Religion, in deren Namen sie die „Atheisten“ und „Materialisten“ zu delegitimieren suchten. „Progressive“ wie „Konservative“ stellten sich unter den Schirm der jeweiligen Supermacht, die Sowjetunion und die USA, und führten auf diese Weise ihre Völker erneut in Abhängigkeit und Unterwerfung.  Das jämmerlichste, aber zugleich für die despotischen Regimes alle  signifikanteste Bild schließlich, lieferte der „Revolutionsführer“ Libyens Mu’ammar al-Qadhafi, als er 2011– politisch schon im freien Fall – unter dem Regenschirm aus einem Auto aussteigend in die Kamera hinein sein Volk als „Kakerlaken“ bezeichnete. Diesem Volk hatte er etwa vier Jahrzehnte zuvor in einer „Volksdschamahiriyya“  (ein arabischer Neologismus) ein System der direkten Mitbestimmung in allen  Dingen und auf allen Ebenen einzuräumen vorgegeben. Das hatte verschleiern sollen, dass die letzte Entscheidung stets bei ihm allein lag. 40 Jahre später hat das Volk dies bemerkt und, als „Kakerlaken“ beschimpft, den Despoten entmachtet.

Die Umwälzung, die im Dezember 2010 an einem trostlosen Ort im Herzen Tunesiens begannen, haben die ganze arabische Welt – wenn auch auf unterschiedliche Weise, in unterschiedlichem Rhythmus und mit unterschiedlichen Ergebnissen – angezündet: Einige Despoten wurden gestürzt,  andere konnten sich behaupten, wieder andere glauben, gar nicht gemeint zu sein. Eines aber war sie nicht; ist sie nicht: ein „Frühling“. Vielmehr ist sie ein weiteres Glied in jener Kette von Revolutionen, Aufbegehren und Protesten, die fünf Jahre nach dem Erscheinen von al-Kawakibis Schrift gegen die Despoten in Iran ihren Anfang nahm und sich durch das ganze 20. Jahrhundert bis in unsere Tage hinzieht. (In dem ephemeren Gebilde des „Islamischen Staates“ ist diesen Dramen ein bizarres, absurdes, aber zugleich bitteres Satyrspiel an die Seite getreten.)

Nach Lage der Dinge sind die Reflexionen al-Kawakibis wieder aktuell; seine Fragen bohrend. Wer wird die arabischen Gesellschaften aus dem Zustand der Irrationalität und der Despotie führen? Es war ein Problem in der jüngsten Revolte, dass sie ohne Führung ablief. Aber das heißt nicht, dass es sie künftig nicht geben wird: Wieder ist die geistige Elite angesprochen, welche die nahda, den Aufbruch im 19.Jahrhundert, eingeleitet hat; einer ihrer Vertreter ist al-Kawakibi. Mit dem Kolonialismus der europäischen Mächte und der Despotie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist sie verstummt. Es gilt, sie wieder zum Sprechen zu bringen.

Was sind die Grundlagen der neuen Ordnung? Al-Kawakibi  wird nicht explizit, gibt aber die Orientierung an: Wieder und wieder beschwört er die Vernunft und Rationalität der Institutionen des Staates sowie die Unabhängigkeit des Rechts, das – im Unterschied zur Despotie – für jeden Bürger/jede Bürgerin in gleicher Weise gelte. Die Legitimität der politischen Ordnung geht allein von ihnen aus. Unüberhörbar schwingt hier eine Bewunderung europäischer liberaler politischer Ordnungen mit. Das aber kann nicht alles sein: Denn als gläubiger Muslim kann er die Religion nicht ausblenden. In welchem Verhältnis also steht die neue Ordnung zu Gott? Wie kann eine politische Ordnung religiös gegründet sein, die nicht vom Despoten in seinem Interesse instrumentalisiert werden kann?

An dieser Stelle tritt der Theologe in al-Kawakibi hervor; hier berührt er sich mit den Reformtheologen seiner Zeit, insbesondere mit Muhammad Abduh, den er in Kairo getroffen hat. Der Koran steht nicht im Widerspruch zu einer rationalen und gerechten Ordnung. Gott hat die Aufsicht über die Handlungen der Herrschenden in die Hände der Nation selbst gelegt (S. 251). Ist das ein Plädoyer für eine säkulare Ordnung? Jedenfalls wohl kaum im Sinne einer vollständigen Verbannung der Religion aus dem politischen Raum. Ein ganzes Kapitel widmet er dem islamischen Prinzip der „Beratung“ (schura). Wer genau die „Berater“ sind, und wie sie sich konstituieren, bleibt offen.  Der Beobachter des beginnenden 21. Jahrhunderts aber ist sicher, dass das khomeinistische (schiitische) Prinzip der „Herrschaft des (anerkannten) Gottesgelehrten“ (vilayat-e faqih) sowie die Forderung radikaler (sunnitischer) Theoretiker (z.B. Abu l-A‘la Maududi und Sayyid Qutb) nach der Unterwerfung der Gesellschaft unter die „Souveränität Gottes“ (hakimiyyat Allah) das Gegenteil dessen beinhalten, was al-Kawakibi vorschwebt: ein Staat, der auf dem Willen der Nation beruht, die von den Prinzipien von Freiheit und Gerechtigkeit geleitet ist. Al-Kawakibis „Islamität“ ist kein Dogma. Sie „lehrt den Menschen, dass er sich von keinem einschüchtern lassen soll, weder von einem Propheten noch vor einem König, weder von einem Geistlichen noch von einem Genie; weder von einem Magier noch von einem Pfarrer, weder von einem Teufel noch von einem Sultan“ (S. 200). Die „Islamität“ lässt selbstverständlich auch nicht-muslimische Araber Mitglieder der arabischen Nation sein.

Al-Kawakibis Gesamtwerk ist von der Vision der Renaissance der arabischen Nation geleitet. Diese aber ist untrennbar mit der Entschlossenheit verbunden, die Fesseln des Despotismus zu brechen. Dass der arabischen Nation dies im vergangenen Jahrhundert nicht gelungen ist, wurde angedeutet. Die Revolte, die 2010/11 ihren Anfang nahm, ist zum Zeitpunkt der Veröffentlichung einer deutschen Übersetzung seiner Schrift gegen den Despotismus in eine Sackgasse geraten; das ist aber nicht ihr Ende. Al-Kawakibi war kein Defaitist; man könnte ihn eher in die Nähe eines arabischen (politischen) Propheten rücken. Denn seine Schrift schließt mit einem Appell: „o mein Volk“, zu einem umfassenden Aufbruch (S. 201 ff.). In dem Katalog von zehn Regeln, die er schließlich aufstellt, heißt es unter anderem: „Ich bin da, wo das Recht ist, und alles andere ist mir belanglos“; „ich bin frei und ich werde frei sterben“; „ich bin unabhängig und habe Vertrauen nur auf mich und meine Vernunft“; „die Ehre ist nur im Wissen“; und „ich fürchte nur Gott“ (218 f.).

Wenn es heißt (S. 212): „Lang lebe die Nation, lang lebe die Heimat, lang lebe die Freiheit“ und insbesondere: „lang lebe die Würde“, dann erinnert sich der zeitgenössische Leser an Tunis, Kairo, San’a, Damaskus, Manama. Und er spürt, dass al-Kawakibis Schrift gegen den Despotismus auch in der Gegenwart von höchster Aktualität ist und dass sie fortwirkt. Um die „Würde“ ging es damals; und geht es heute.