Tradition und Erneuerung im Ringen um die Zukunft (Leseprobe) - November 2021

Veröffentlicht: Sonntag, 14. November 2021 18:16

 

Vorbemerkung

Gegenstand des Buches ist die Geschichte des Vorderen Orients im 20. Jahrhundert. Dabei handelt es sich um eine der ereignisreichsten und dramatischsten Epochen dieses Raumes seit der Zerstörung des Kalifats in Bagdad durch die Mongolen im Jahr 1258.

 Politisch beginnt das 20. Jahrhundert des Vorderen Orients mit der Verfassungsrevolution in Persien im Jahr 1906. Bürgerliche Kräfte in einem breiten gesellschaftlichen Spektrum ringen dem Herrscher eine Verfassung ab. Sie definiert seine Machtausübung und stärkt die Gesellschaft ihm gegenüber. Zugleich suchen sich iranisch-nationalistische Kräfte auf diese Weise der Einmischung durch europäische Mächte zu entledigen. Dieses doppelte Ringen nach innen wie nach außen kann als Vorzeichen über der politischen Entwicklung der gesamten Region im 20. Jahrhundert verstanden werden.

 Wesentliche Weichenstellungen aber waren bereits im vorangegangenen Jahrhundert vorgenommen worden; deshalb war es notwendig, in der Darstellung den Blick auf diesen Zeitraum auszuweiten. Und da das chronologische Ende des 20. Jahrhunderts nicht auch das Ende der politischen und ideologischen Dynamiken bedeutete, die dieses Jahrhundert bewegt haben, musste die Darstellung auf die ersten beiden Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts übergreifen.

 Geographisch wird der Vordere Orient verstanden als der Raum von Nordafrika bis an die Grenze zum indischen Subkontinent. Diese Zusammenschau ist durch zwei Perspektiven gerechtfertigt: Zum einen ergibt sich aus der Prägung durch die islamische Religion und aus der politischen Interaktion in der Neuzeit ein hohes Maß an Kohärenz. Zum anderen hebt sich dieser Großraum geographisch wie geschichtlich deutlich von benachbarten Räumen ab – dem europäischen, dem russisch- zentralasiatischen, dem indischen und dem subsaharisch-afrikanischen.

 Die zeitliche Eingrenzung ergibt sich aus der Perspektive der Gegenwart. Unübersehbar sind die Staaten und Gesellschaften im Vorderen Orient in eine tiefe Krise geraten. Sie ist geprägt durch Instabilität politischer Systeme, zwischenstaatliche Konflikte und machtpolitische Rivalitäten, gesellschaftliche Verwerfungen, ethnische Gegensätze und aus der Religion abgeleitete Gewalt. Der Zerfall von Staaten, die nach dem Ende des Ersten Weltkriegs entstanden sind, wird nicht mehr ausgeschlossen. Die Missachtung staatlicher Souveränität ist geradezu ein Prinzip des außenpolitischen und militärischen Handelns regionaler und internationaler Akteure geworden.

 Aus der Perspektive der Gegenwart ergibt sich somit die Frage nach der Ursache und den Triebkräften für den Verfall des vorderorientalischen Großraums in einen buchstäblich chaotischen Zustand. Der Blick fällt dabei auf den Beginn des 20. Jahrhunderts. Nach einem Jahrhundert von Reformprozessen und von Bemühungen, sich der unabweisbaren Tatsache europäischer politischer und wirtschaftlicher Überlegenheit und imperialistischer Aggressivität zu stellen, kam es 1906 mit der Verfassungsrevolution in Iran zu einem ersten tiefen Bruch in der traditional bestimmten Ausübung von Herrschaft. Ihr folgte die jungtürkische Revolution; und mit dem Ende des Osmanischen Reichs war die Zukunft des Vorderen Orients insgesamt geöffnet. Seine Geschicke traten in ein neues Stadium.

 Seither ist die Geschichte des Vorderen Orients in ständiger Bewegung. Wirklich »revolutionär« im streng politikwissenschaftlichen Sinn1 war sie wohl nur in wenigen Umbrüchen – so etwa im Falle der khomeinistischen Ablösung der iranischen Monarchie durch eine »Islamische Republik«. In vielen Fällen handelte es sich eher um Staatsstreiche unterschiedlicher Akteure, um Revolten im Sinne des Aufbegehrens gegen bestehende »Verhältnisse« oder um mehr oder minder gewalthafte Widerstands- und Befreiungsbewegungen. Gleichwohl – die Ablösung des Osmanischen Reichs durch die Gründung der Türkischen Republik, die Machtübernahme Nassers in Ägypten oder der Ba’th-Partei im Irak und in Syrien waren mehr als nur Staatsstreiche, führten sie doch zu einer nachhaltigen Ablösung überkommener Eliten und Machtstrukturen sowie zum Aufbau neuer Formen von Herrschaft und staatlicher Ordnung. Und selbst der kurzlebige marxistische Coup in Kabul (1978/ 79) war der Beginn eines langfristigen Prozesses politischen und gesellschaftlichen Wandels.

 In der Selbstwahrnehmung der Akteure war ihr Tun eine »Revolution«. Ob »Revolution«, »Revolte«, »Staatsstreich«, »Widerstand«, »Aufbegehren« oder »Befreiung « – alle diese Ereignisse lassen die Geschichte des Vorderen Orients im 20. Jahrhundert als eine Abfolge bewegter Dramen auf der Suche nach einer neuen Ordnung erscheinen. Im Folgenden werden Begriffe wie »Revolution«, »Revolte« etc. nicht streng definiert (wenn das überhaupt möglich ist) oder gegeneinander abgegrenzt. Sie sind vielmehr Chiffren für einschneidende Ereignisse politischer und gesellschaftlicher Natur, von denen die neuere Geschichte des Vorderen Orients so erfüllt ist. Dass diese beständig von widerstreitenden geistig-kulturellen und religiösen Tatbeständen und Strömungen unterfüttert werden, ist eine Eigenheit dieses Raumes, in dem die Religion noch immer ein bestimmender Faktor des privaten und öffentlichen Lebens ist.

 Als die Formel vom »Ende der Geschichte« nach dem Zerfall der Sowjetunion in die Welt gesetzt wurde, zeichnete sich bereits ab, dass es sich dabei um einen fundamentalen Irrtum handelte. Nicht nur im Vorderen Orient – aber eben gerade dort mit besonderer Heftigkeit – kam es zum Ausbruch gewalthaften Handelns mit der Folge bisher nicht gekannter Erschütterungen. Der Terrorismus war die Spitze dieses Eisbergs. Die »Geschichte« ging also weiter, und so stellt sich die Frage nach ihrer Richtung. Darauf zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine konkrete Antwort zu geben, wäre ein verwegenes Unterfangen. Aber um in die Zukunft zu schauen, muss man die Geschichte und ihre Wirkkräfte kennen. Die Revolte, die ab 2011 auch den arabischen Raum zu verwandeln begonnen hat (drei Jahrzehnte nach der Revolution in Iran), lässt erste Eckpunkte des künftigen Geschehens erkennen: Ein enormer Druck wird von der Zivilgesellschaft ausgehen; von Männern und (vor allem) Frauen, die sich, was Bildung und Information betrifft, in globalisierten Räumen bewegen. Der Stellenwert der Religion, die zu politischem Missbrauch vielfältiger Art instrumentalisiert worden ist, innerhalb der politischen Systeme und gesellschaftlichen Ordnungen wird sich verändern. Verändern werden sich auch die Mechanismen wirtschaftlichen Handelns, die von Netzwerken sehr unterschiedlicher Natur, welche sich als überlebt und entwicklungshemmend erwiesen haben, zum eigenen Vorteil und zum Schaden der Gesellschaften bedient worden sind.

 Über Jahrzehnte ist der Vordere Orient Gegenstand eines starken öffentlichen Interesses. An dieses richtet sich die hier vorgelegte Darstellung. Die geographische Ausdehnung des Raumes und die Vielfalt der Entwicklungen über ein Jahrhundert in ihm zwangen zu einer konzentrierten Darstellung. Deswegen wurde auf einen detaillierten Apparat von Anmerkungen und Erläuterungen verzichtet. Eine umfangreiche Online-Bibliographie (https://dl.kohlhammer.de/978-3-17-031338-5) soll Hilfestellung bei weiterreichendem Interesse leisten. Mit Blick auf den breiten Kreis der Interessenten wurde auf Literatur in den orientalischen Sprachen (und im Russischen) verzichtet. Zahlreiche der in die Bibliographie aufgenommenen Titel enthalten ausführliche Überblicke über Quellen und originale Dokumente.

 Wie stets bei Arbeiten über den Nahen Osten stellte die Umschrift von Orts- und Eigennamen, Begriffen, Parteien und Organisationen, Buchtiteln und Zitaten eine Herausforderung eigener Art dar. In Betracht kamen Arabisch, Persisch, Osmanisch- Türkisch, Aserbaidschanisch-Türkisch, Hebräisch, Kurdisch und Paschtu sowie Russisch. Ein erheblicher Grundbestand an Namen und Begriffen entstammen der arabischen Sprache. Nun ist aber der Lautstand der Aussprache arabischstämmiger Wörter im Persischen und Osmanischen sehr unterschiedlich. So klafft zwangsläufig beständig eine Diskrepanz zwischen der wissenschaftlichen Umschrift nach den Grundsätzen der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft und der tatsächlichen Aussprache im Persischen und Osmanischen. (Für das heutige Türkisch wurde die gängige türkische Orthographie verwendet.) Dies geht so weit, dass selbst bei der eigentlich korrekten Assimilierung des arabischen Artikels (al-) an bestimmte nachfolgende Konsonanten um der gesprochenen und gehörten Aussprache willen Unregelmäßigkeiten und Widersprüche in Kauf genommen wurden. Erwähnt werden muss schließlich auch, dass die Wiedergabe orientalischer Sprachen im Englischen und Französischen sehr unterschiedlich ausfällt. England und Frankreich aber waren über Jahrzehnte des vergangenen Jahrhunderts die Mächte, an deren Lautstände die Eliten die Umschrift ihrer Sprachen ausgerichtet haben. Auch hier wurde der dem Leser (etwa aus den Medien) vertrauten Schreibweise Vorrang vor wissenschaftlichem Purismus eingeräumt. Akronyme in allen Sprachen wurden in der Mehrheit nach großem Anfangsbuchstaben klein geschrieben, um das Schriftbild einheitlich zu gestalten (also: Uno, Nato, Hamas, Palmach etc.).

Berlin, im April 2021     Udo Steinbach

 

Einführung – ein wechselvolles Jahrhundert

Am Sonntag, dem 29. Juni 2014 und Beginn des Fastenmonats Ramadan, erging ein Manifest an die anderthalb Milliarden Muslime der Welt: Hiermit werde das »Kalifat « ausgerufen – »hier weht die Flagge des Islamischen Staates, die Flagge des Monotheismus. Ihr Schatten bedeckt das Land von Aleppo bis Diyala« (mithin von Nordwest-Syrien bis zur iranischen Grenze). Fortan sei Abu Bakr al-Baghdadi al- Quraischi »Kalif Ibrahim« der »Führer der Gläubigen«, dem qua Gottes Befehl alle Muslime Gefolgschaft zu schwören hätten. »Die Legalität aller Emirate, Staaten, Gruppen und Organisationen wird null und nichtig durch die Expansion der Autorität des Emirats und die Ankunft seiner Truppen«.Wenige Tage später, am 4. Juli, hatte der »Kalif« in der im 12. Jahrhundert erbauten Moschee des Nur ad-Din Zangi in Mossul seinen einzigen Auftritt: In der khutba (Freitagspredigt) verkündete er die Rückkehr zu Glanz und Größe des islamischen Gottesstaates, die Erfüllung des Versprechens Gottes.2

 Dies war mehr als Polittheater, auch wenn bereits drei Jahre später mit der Eroberung von Mossul (bei der die fast tausend Jahre alte Nuri-Moschee weitgehend zerstört wurde) und Raqqa dem bizarren – aber brutalen – Treiben bereits wieder ein Ende gesetzt wurde. 1924 war das Kalifat der Osmanen per Beschluss des Parlaments der Türkischen Republik abgeschafft worden (c S. 183). Fragen nach der Rechtmäßigkeit des türkischen Schritts, nach dem Volk, aus dem das neue Kalifat hervorgehen sollte, und nach der Qualifikation des Kalifen waren auf islamischen Konferenzen – freilich ohne konkrete Ergebnisse – erörtert worden. Dann verschwand das Interesse daran; und der real existierende Nationalstaat, der gerade in Gestalt der jungen Türkischen Republik seine Lebenskraft überzeugend zu manifestieren schien, verkörperte die Staatlichkeit der Zukunft. Der Nationalstaat – und nicht mehr die islamische umma – war die politische Ordnung auch der Muslime. In ihr würden die Muslime den Herausforderungen der Zukunft erfolgreich begegnen.

 In seiner Absurdität, in der aber zugleich ein Kern geschichtlicher Wahrheit, ein verblasster Traum muslimischer Sehnsüchte und Irritation über eine unbefriedigende Gegenwart zu erkennen sind, reflektiert das Konstrukt des Islamischen Kalifats die Widersprüche des Verlaufs der Geschichte des Vorderen Orients im 20. Jahrhundert. Tatsächlich ist dieses das wechselvollste Jahrhundert in der Geschichte der Völker Nordafrikas und des Nahen und Mittleren Ostens, soweit die Erinnerung zurückreicht. Die Dynamik der Brüche seit seinem Beginn erwächst aus der Verdichtung politischer, gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und kultureller Prozesse durch das 19. Jahrhundert hindurch. Mit dem Zusammenbruch der alten Ordnungen am Ende des Ersten Weltkriegs bildet sich eine neue, tiefgreifend veränderte geopolitische, gesellschaftliche und kulturelle Landschaft aus. Neue Rechtfertigungen von Herrschaft werden gesucht und getestet. »Der Westen« ist die elementare politische und geistige Herausforderung; auf sie wird keine Antwort gefunden, die »Authentizität« und »Moderne« verbindet. Die gleichzeitigen Revolutionen in Iran (1906) und im Osmanischen Reich (1908) stehen am Anfang dieser langen Kette von Umbrüchen, die Totgeburt eines »Islamischen Kalifats« an seinem Ende.

 Der Ausgang des Ersten Weltkriegs bedeutet eine tiefe Zäsur. Das gilt gleichermaßen für Europa und den Nahen und Mittleren Osten. Auf den Trümmern des Habsburgischen wie des Osmanischen Reichs entstehen neue Staaten und politische Ordnungen. Europa betreffend, wurden nicht zuletzt die in den Pariser Friedensverhandlungen 1919 getroffenen Entscheidungen mitursächlich für die Katastrophe, in die der Kontinent in den folgenden Jahrzehnten abgeglitten ist; sie gipfelte in den menschlichen, materiellen und kulturellen Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs. Dessen Verwüstungen vor Augen, machten sich weitsichtige Persönlichkeiten daran, die Grundlagen einer neuen europäischen Ordnung zu legen. Das Bekenntnis zu Menschenrechten, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und gemeinsamer wirtschaftlicher Entwicklung wurde der Kern der Dynamik des Zusammenwachsens europäischer Staaten und Gesellschaften zu einer neuen Form der Gemeinschaft.

 Den Vorderen Orient betreffend verliefen die Entwicklungen weniger eruptiv und dramatisch; sie zeigten aber auch dort schwere, bis in die Gegenwart nachwirkende Folgen. In indirekter oder direkter Herrschaft spannten europäische Mächte, geleitet von imperialistischen und kolonialistischen Zielen, einen Herrschaftsschirm über der Region zwischen Nordafrika und dem indischen Subkontinent auf. Unter ihm bestand zwar relative Stabilität. Aber die Auseinandersetzung mit dem europäischen Imperialismus band die politischen Energien der Eliten und verhinderte somit – von Ausnahmen abgesehen – politische und gesellschaftliche Erneuerung und wirtschaftliche Entwicklung, welche eigenständige und stabile neue Ordnungen hätten begründen können. Als der Wandel nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs an Dynamik gewann, war er von gewalthaften Brüchen und Konflikten im Inneren der jungen Staaten wie im regionalen Zusammenhang gekennzeichnet. Die Auseinandersetzung mit dem Staat Israel, der 1948 ins Leben trat, sollte über Jahrzehnte für das politische Handeln insbesondere der arabischen Staatsführungen wesentlich bestimmend werden. Zugleich sahen sich die neuen Eliten, die mit der Erringung der Unabhängigkeit die Voraussetzung für eine umfassende Modernisierung ihrer politischen Institutionen und gesellschaftlichen Ordnungen zu schaffen suchten, erneut in eine globale Machtkonstellation verstrickt, die einer Entfaltung der politischen und wirtschaftlichen Potentiale und Eigenheiten entgegenstand, welche den Interessen und Ordnungsvorstellungen der neuen Regimes in Übereinstimmung mit dem Willen ihrer Völker entsprochen hätte. Die Reformdynamik kam an ihr Ende und machte einer lähmenden und stagnierenden Machtausübung Platz: Die Regimes begannen, sich auf klientelistische Netzwerke zu stützen; Herrschaft war auf den Erhalt ihrer Macht und auf die Verteilung der mit ihr verbundenen Profite ausgerichtet. Die Mitbestimmung der Bürger wurde zur Gefährdung des Machterhalts. Deren Wohlfahrt lag außerhalb des Ziels und Zwecks von Herrschaft.

 Hinter der Tatsache von Stagnation und Fremdbestimmung begannen sich Kräfte zu formieren, die ihre Gesellschaften auf eine neue Grundlage zu stellen suchten. Sie schöpften ihren Anspruch auf Authentizität aus der islamischen Religion und der ihr innewohnenden Veränderungsdynamik. Im schiitisch geprägten Iran wurde Anfang 1979 das überkommene System der Monarchie gestürzt. Zeitgleiche Bestrebungen im Raum des sunnitisch geprägten Nordafrika und Nahen Ostens führten zu keinen nachhaltigen, stabilen Ergebnissen. In wachsendem Maße breitete sich diffuse Gewalt aus. Sie fand in den Terrorattentaten von New York und Washington am 11. September 2001 einen ersten Höhepunkt. Der fehlgeleitete Versuch der USA im Frühjahr 2003, durch eine militärische Intervention im Irak die Einrichtung demokratischer Institutionen zu erzwingen und damit die Voraussetzung für politische Stabilität zu schaffen, bedeutete schließlich das Fanal für die flächendeckende Ausbreitung vornehmlich religiös begründeter Gewalt im Nahen Osten und in Nordafrika, ja global und mit Ausläufern nach Europa.

 Die Selbstverbrennung eines jungen Mannes im wirtschaftlich armen Herzen Tunesiens am 17. Dezember 2010 setzte weite Teile der arabischenWelt in Flammen. Die sich dramatisch ausbreitende Protestwelle von Millionen von Menschen im gesamten arabischen Raum vollzog sich im Zeichen des Rufs nach Respekt vor der Würde der Bürger seitens der Regierenden. Dieses Ideal war keiner spezifischen Weltanschauung, Ideologie oder Religion geschuldet. Im Mittelpunkt der Forderungen standen die Ausarbeitung von Verfassungen und die Durchführung von Wahlen.

 Zahlreiche Widerstände und Fehlentwicklungen haben – von Tunesien abgesehen – die Revolte der Jahre 2011/12 erst einmal in der politischen Sackgasse enden lassen. Sie ist durch politische Restauration, Armut, Unterentwicklung und Bevölkerungsexplosion gekennzeichnet, begleitet von religiösem Fanatismus und politischem Radikalismus. Auswanderung und Flucht sind Symptome der Hoffnungslosigkeit. Auf der Suche nach einer neuen Ordnung hat sich vorerst Gewalt seitens unterschiedlichster Akteure und Ideologien krebsartig im Vorderen Orient ausgebreitet. Mit Blick auf die Dynamik zu Beginn dieser »dritten arabischen Revolte«3 – nach der ersten (in den frühen zwanziger) und der zweiten (in den fünfziger und sechziger Jahren) – ist es statthaft, vorherzusagen, dass damit nicht das letzteWort der Geschichte gesprochen ist.

 Aus der Distanz (und aus der Perspektive europäischer selektiver Erinnerungskultur und Arroganz) betrachtet, erscheint vielen Europäern der Raum seiner islamischen Nachbarschaft als »hoffnungsloser Fall« mit Blick auf politische und gesellschaftliche Erneuerung, wirtschaftliche Entwicklung (jenseits von Öl und Gas) und stabile demokratische Institutionen. Demgegenüber lässt ein vorurteilsfreier, aber zugleich empathischer Blick auf die Geschichte das Engagement, ja den Enthusiasmus und die Ernsthaftigkeit der Anstrengungen hervortreten, mit welchen durch das 20. Jahrhundert hindurch die umfassende Erneuerung der Grundlagen von Staat und Gesellschaft angestrebt worden ist. Die mit diesen Erneuerungsbestrebungen untrennbar verbundene Frage, in welcherWeise Tradition, Religion und durch die Geschichte gewachsene Identitäten bewahrt werden könnten, bedeutete freilich eine zusätzliche Bürde auf diesemWeg. Die Gesellschaften Europas hatten in den geschichtlichen Umbrüchen seit der Französischen Revolution und zumal während des 20. Jahrhunderts im Guten und Bösen letztlich aus dem Fundus der eigenen Geschichte und ihrer geistigen und politischen Errungenschaften schöpfen können. Demgegenüber waren die Nachbarn Europas im Nahen Osten und Nord- afrika unabweisbar gezwungen, sich mitWerten, Normen und geistigen Dynamiken auseinanderzusetzen, die in Europa, also außerhalb ihres historischen Orbits, ihren Ursprung hatten. Darüber hinaus waren sie seit dem 19. Jahrhundert zunehmend in politische und wirtschaftliche Abhängigkeit, mit dem Ende des ErstenWeltkriegs gar in Unterlegenheit geraten. Die Entstehung des auf europäische Werte gegründeten Staates Israel schließlich bedeutete eine weitere schwere politische und psychologische Bürde auf demWeg insbesondere der arabischen Gesellschaften zu einer neuen und selbstbestimmten Definition ihres Platzes in der Welt.

 Bereits vor dem Ende des Ersten Weltkriegs hatten in Iran und im Osmanischen Reich revolutionäre Kräfte die Grundlagen der Herrschaft erschüttert. 1906 sah sich der Schah gezwungen, der Einführung einer Verfassung zuzustimmen; zwei Jahre später setzte ein Putsch der »Jungtürken«, die sich auf Teile der Armee stützten, die Wiedereinsetzung der Verfassung von 1876 seitens des Sultans durch. Die kemalistische Revolution nach der 1923 erfolgten Gründung der Türkischen Republik markierte radikale Wegzeichen für die künftige Entwicklung des gesamten Nahen und Mittleren Ostens. Im benachbarten Persien bewunderte Reza Khan das kemalistische Experiment. Zwar machte er das Land 1925 nicht zu einer Republik, sondern erneuerte nach dem Ende der Qadscharen-Dynastie die Monarchie als Reza Schah Pahlawi. Aber die Türkei Atatürks war ihm Vorbild bei der Umwandlung Irans.

 Der arabische Raum trat – nach Ansätzen in der Zwischenkriegszeit – mit der Revolution der Freien Offiziere in Ägypten 1952 in ein revolutionäres Zeitalter ein. Überkommene Regimes fielen oder gerieten unter starken Wandlungsdruck; in zahlreichen Staaten entstanden politische Systeme, die sich an europäischen Ordnungsvorstellungen orientierten. Alle arabischen Staaten, deren Eliten dies anstrebten, traten in die Unabhängigkeit ein – im Falle Algeriens nach einem blutigen Ringen mit der französischen Kolonialmacht.

 Die Gründung des Staates Israel 1948 hat den Verlauf der Geschichte des Nahen Ostens nachhaltig beeinflusst. Die Haltung zum jüdischen Staat war Gegenstand innenpolitischer Kontroversen und Konflikte innerhalb der arabischen Staaten und unter ihnen (später auch in Bezug auf Iran und die Türkei). Die Herausforderung, die sich mit der Existenz Israels stellte, hat auch die Stellung der Staaten der Region im internationalen System mitgeprägt.

 Die Revolution in Iran 1979 war ein einschneidendes Ereignis. Sie begann als Protest breiter Teile der Bevölkerung gegen soziale und wirtschaftliche Missstände, vom Frühjahr 1978 an stand sie zunehmend unter der Führung eines Geistlichen. Gestützt auf sein Charisma errichtete Ayatollah Khomeini eine »Islamische Republik «. Damit suggerierte er eine Synthese von politischer Moderne und Verwurzelung in (schiitisch) islamischer Tradition. Zugleich demonstrierte er die völlige Unabhängigkeit gegenüber der Einflussnahme auswärtiger Mächte, namentlich der USA.

 Zeitgleich mit der Revolution in Iran, die zu einer »islamischen« umgemünzt wurde, fand im Nachbarland Afghanistan eine marxistisch-leninistische Revolution statt. Auch sie beendete die Monarchie, sie fand aber keine Akzeptanz in der Bevölkerung. Indem die Sowjetunion die Revolution durch eine militärische Intervention zu retten suchte, bewirkte sie einen nachhaltigen Zerfall des Landes. Mitte der neunziger Jahre übernahm eine islamistische Miliz die Herrschaft in Kabul. In ihrem Milieu nistete sich mit al-Qa’ida eine Terrororganisation ein, die am 11. September 2001 in New York und Washington zuschlug.

 Die Bilder der brennend zusammenstürzenden Türme des World Trade Center waren das Fanal eines war on terrorism, der bald eine globale Dimension erhielt. An der Spitze der – nach ihrem Selbstverständnis – kriegführenden Parteien standen die USA; neben ihnen waren zahlreiche andere Staaten aus Europa, dem Nahen Osten, Asien und Afrika involviert. Gegner im »Krieg gegen den Terrorismus« waren wesentlich militante Gruppierungen, die auf der Grundlage eines zu einer totalitären Ideologie umgeschmiedeten »Islam« den dschihad gegen den Rest der – in ihren Augen »heidnischen« – Welt führten. Auf den Trümmern der bestehenden Gesellschaften sollte unter der »Souveränität Gottes« am Ende ein islamisches Kalifat entstehen.

 Im Rückblick waren die – so unterschiedlichen – Revolutionen in Iran und Afghanistan in den Jahren 1978/79 das Vorspiel zu den Umbrüchen im arabischen Raum, die 2011 ein neues Kapitel in dessen Geschichte eingeleitet haben. Die Selbstverbrennung eines frustrierten und verzweifelten jungen Gemüsehändlers im zentraltunesischen Sidi Buzid am 17. Dezember 2010 wurde das Fanal der »dritten arabischen Revolte«. Die Forderung nach Würde, die Millionen von Jugendlichen zwischen Marokko und Jemen erhoben, einte sie für einen Augenblick. Nach ersten Erfolgen endete die Dynamik zunächst in der Sackgasse. Radikal islamistische Gruppen, von denen während der revolutionären Ereignisse selbst nichts zu hören gewesen war, kehrten auf die Bühne zurück und suchten das Vakuum, die Ratlosigkeit und die Verwirrung zu nutzen, ihre menschenverachtende Ideologie in die politische Wirklichkeit zu projizieren.

 An diesem Tiefpunkt der Geschichte des Nahen und Mittleren Ostens stehen die Gesellschaften und ihre Führungseliten vor der Herausforderung, neue Ordnungen zu schaffen, die im 21. Jahrhundert Bestand haben, weil sie den elementaren Erwartungen der Menschen auf Bürgerrechte und Entwicklung entsprechen.

 Die hier vorgelegte Darstellung hebt auf die vielfältige Dynamik in den Gesellschaften des Vorderen Orients und Nordafrikas ab. In dieserWahrnehmung wendet sie sich gegen das in Deutschland verbreitete gleichsam essentialistische Klischee von notorischer Stagnation, Entwicklungsunfähigkeit, Modernisierungsunwilligkeit und Gewaltgeneigtheit; weithin werden diese mit »dem Islam« in Verbindung gebracht. Den langenWeg zu erkennen, den die Menschen und ihre Gesellschaften im Verlaufe des vergangenen Jahrhunderts gegangen sind, Entwicklungen, Veränderungen, ja zahlreiche Brüche und Rückschläge einzuordnen, negativ konnotiertem Defaitismus entgegenzutreten, ist aber die Voraussetzung, eine positive Perspektive auf den Weg aus der Sackgasse aufzutun, in der sich die Region zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Buches befindet.

 Es ist Mode geworden, die Krisen und Blockaden dieses Raumes der Einmischung auswärtiger Mächte – bis zum Ende des ZweitenWeltkriegs Europas und seither der USA – zuzuschreiben. Namentlich letzteren wird eine geradezu diabolische Entschlossenheit unterstellt, amerikanische politische und wirtschaftliche Interessen rücksichtslos durchzusetzen. Das ist keine vollständig unbegründete Einschätzung: Die ungeniert imperialistische Politik europäischer Mächte und später der USA hat den Gang der Dinge wesentlich bestimmt – und zugleich die Verschwörungstheorien und Abwehrreflexe genährt, die in den nahöstlichen Gesellschaften immer wieder zu gewalthaftem Aufbegehren geführt haben.

 Ein unvoreingenommener Blick freilich kann nicht übersehen, dass die letzten Gründe für die Fehlentwicklungen in den nahöstlichen Gesellschaften selbst und namentlich im Versagen ihrer Eliten liegen, die Herausforderungen anzunehmen, die sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart gestellt haben. Diese erst haben die Staaten so geschwächt, dass sie ein Spielball der Manipulation durch auswärtige Mächte werden konnten. Unumgängliche Reformen wurden aufgeschoben oder allenfalls halbherzig angegangen, die Machtpolitik einzelner Persönlichkeiten oder politischer Gruppen haben Energien vergeudet, die besser für Erneuerung und die Gewinnung breiter politischer und gesellschaftlicher Akzeptanz für diese Erneuerung hätten genutzt werden können.

 Geographie und Geschichte haben die Räume, welche südlich und östlich an das Mittelmeer angrenzen, unauflöslich mit Europa verbunden. Diese Selbstverständlichkeit steht über der Geschichte, aber auch der Zukunft beider Räume. Die künftige Interaktion freilich muss von anderer Art sein, als dies durch das 19. und insbesondere auch durch das 20. Jahrhundert hindurch der Fall gewesen ist. Gesucht wird ein neues Ethos der Partnerschaft. Das bedeutet auf europäischer Seite einen Paradigmenwechsel: An die Stelle einer »exklusiven« Wahrnehmung, welche in der islamischen Nachbarschaft den Anderen oder das Andere gesehen hat, muss eine »inklusive« Wahrnehmung treten, d. h. das Bewusstsein, dass die Zukunft gemeinsam und auf Augenhöhe gestaltet wird. Vor dem Hintergrund eines globalen Systems der Mächte, das in einen tiefgreifenden Wandel eingetreten ist, wird die Stellung Europas darin wesentlich auch von der Qualität seiner Beziehungen zu seiner islamischen Nachbarschaft abhängen.

 Vorstehende Skizze lässt das inhaltliche Spektrum und den geographischen Rahmen erkennen, die Gegenstand der Darstellung sind: der Raum zwischen Nordafrika und Afghanistan. Bei aller Diversität der Völker, Gesellschaften und staatlichen Ordnungen bestehen Interdependenzen geschichtlicher, kultureller, sprachlicher, religiöser und politischer Art. Die Darstellung bliebe unvollständig, wenn nicht auch Russland Aufmerksamkeit zuteilwürde. Im Zuge seiner territorialen Expansion in Richtung auf das Kaspische und das Schwarze Meer wurde das Zarenreich seit dem 18. Jahrhundert auch zu einem Akteur im Vorderen Orient. Bis zu dessen Ende rang es mit dem Osmanischen Reich um die Vorherrschaft im Raum des Schwarzen Meeres und der Meerengen zum Mittelmeer, mit dem britischen Empire in Persien und Afghanistan um die Abgrenzung von Macht- und Einflusszonen. Seit dem Vertrag von Küςük Kaynarca (1774; im Nordosten des heutigen Bulgarien gelegen) als Schutzmacht der orthodoxen Christen anerkannt, wetteiferte Russland mit anderen europäischen Großmächten um Mitbestimmung über das Schicksal des Osmanischen Reichs. In Zentralasien und im Kaukasus waren Millionen von Muslimen Bürger des russischen Reichs. Unter ihnen kam es im 19. Jahrhundert zu Erneuerungsbewegungen, die – nicht zuletzt über Aserbaidschan – in den benachbarten islamischen Raum ausstrahlten. Auch die bolschewistische Revolution vom Oktober/November 1917 und ihre Folgen haben ideologische und politische Kräfte freigesetzt, die über weite Strecken des 20. Jahrhunderts die Geschicke aller Völker des Nahen Ostens und Nordafrikas mitbestimmt haben. Die Türkei, Iran und Afghanistan waren die ersten Staaten, mit denen der junge Sowjetstaat 1921 Verträge abschloss. In Gestalt der Sowjetunion hat Moskau nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die machtpolitische Rolle des Zarenreichs im Nahen und Mittleren Osten fortgesponnen.

 Der rote Faden der Darstellung ist die Frage nach den geschichtlichen Zusammenhängen und Abläufen, die in die komplexe Konfliktlage der Gegenwart mündeten. In immer dichterem Rhythmus und mit wachsender Zerstörungskraft treiben die Ereignisse seit den zeitgleichen Revolutionen in Teheran und Kabul (1978/79) den Vorderen Orient in den show down, der von der Ausrufung des »Islamischen Kalifats« (2014) markiert wird. Externe Interventionen in Afghanistan, im Irak, in Jemen, Syrien und Libyen verschärfen interne Konfliktkonstellationen.

 Diese neueren Entwicklungen aber sind als Fortsetzung und Ergebnisse revolutionärer Umbrüche zu verstehen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihren Anfang nahmen. Das gilt für die Verfassungsrevolution in Iran (1906), das Vorspiel zu der Revolution, die siebzig Jahre später in der Errichtung einer »Islamischen Republik« mündete. Es gilt aber auch für die Revolution der »Jungtürken«, in der es ebenfalls um die (Wieder-)Einführung einer Verfassung ging. Sie konnte aber den Niedergang des Osmanischen Reichs nicht aufhalten, dessen Ende dann das Tor zu einer weitreichenden Neuordnung des Vorderen Orients öffnete. Diese freilich entsprach nur zum Teil den Vorstellungen und Wünschen der Völker, weshalb sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs neue Eliten gegen sie auflehnten und nach Lösungen suchten, die im Einklang mit dem Willen und dem Selbstverständnis der Völker stehen würden.

1     Das 18. Jahrhundert – Vorabend der Neuzeit

Für den Nahen und Mittleren Osten bedeutet das 18. Jahrhundert einen Zeitraum des Übergangs. In ihm werden dieWeichen für seinen Eintritt in die Neuzeit gestellt. Die beiden Mächte, die über Jahrhunderte die Geschichte geprägt haben, haben längst an Vitalität verloren. Das Safawidenreich erlischt 1722. Auf seinem Boden schaffen lokale »Condottieri« Staatswesen, die ihre Gründer kaum überleben. Erst gegen Ende des Jahrhunderts entsteht mit der Dynastie der Qadscharen ein dauerhafter und relativ stabiler iranischer Staat. Das Osmanische Reich ist mit der gescheiterten zweiten Belagerung von Wien (1683) in eine Epoche fortschreitender äußerer und innerer Schwäche eingetreten. Es verliert zunehmend an machtpolitischem Gewicht. Mit der »orientalischen Frage« verbindet sich der Ausgang des Ringens der europäischen Mächte um die Aufteilung des Erbes des Reichs. Unter den Vorzeichen dieses Ringens ist der Gang der Geschichte seit dem Ende des Jahrhunderts verlaufen.

 Neben der politischen Macht ist zugleich die wissenschaftlich-technologische und wirtschaftliche Überlegenheit unabweisbar, welche die Grundlage der europäischen Expansion werden sollte. Damit ist für die islamisch geprägten Völker die Frage aufgeworfen, was die Gründe für die Unterlegenheit sind. Neben der Herausforderung zu politischer Selbstbehauptung stellt sich die Herausforderung der geistigen Modernisierung. Für die Menschen im Raum zwischen Marokko und dem Hindukusch beginnt die Suche nach einer Identität, in der die Tradition, und d. h. wesentlich die islamische Religion, und europäische geprägte Normen und Institutionen koexistieren. Diese Frage nach der Identität sollte über zwei Jahrhunderte unterschiedlich beantwortet werden und ist selbst in der Gegenwart noch die Wurzel für nicht nur geistig-kulturelle, sondern auch für politische Konflikte.

 Mit der Schwäche der politischen Ordnungen im Vorderen Orient und Nordafrika gehen der machtpolitische und wirtschaftliche Aufstieg europäischer Mächte in der Region und deren immer nachhaltigere Einflussnahme auf die Mächtekonstellation im Nahen Osten einher. AmEnde des Jahrhunderts lässt die napoleonische Expansion nach Ägypten (1798) die politische, militärische und wirtschaftliche Überlegenheit der europäischen Mächte über das Osmanische Reich erkennen. Zugleich beginnen sich Frankreich, England und Russland immer stärker in die Innen- und Außenpolitik Persiens einzumischen. Mit dem Friedensschluss von Kü- ςük Kaynarca 1774 und der Festigung seiner Machtstellung im südlichen Kaukasus ist auch Russland zu einer Nahostmacht geworden.

1.1     Der lange Niedergang der Osmanen

Im September 1683 musste der osmanische Feldherr Kara Mustafa Pascha die BelagerungWiens abbrechen. Noch einmal hatte sich Konstantinopel angeschickt, seine Machtposition auf dem Balkan zu konsolidieren und auszuweiten. Am 13. Juli begann die Belagerung von Wien. In der Schlacht am Kahlenberg am 11. September versetzte eine Allianz europäischer Armeen den osmanischen Belagerern eine vernichtende Niederlage. Das war der Beginn einer Kette von Rückschlägen; und gegen Ende des 18. Jahrhunderts war unübersehbar, dass die osmanischen Heere ihre Überlegenheit und das Osmanische Reich seinen Schrecken verloren hatten.

 Die gescheiterte Belagerung brachte einige grundlegende Tatbestände auf den Punkt, die die Stärke des Reichs strukturell unterminiert hatten. Mit dem Tod Sultan Süleymans »des Prächtigen« (1520–1566) hatte es den Zenit seiner politischen Machtentfaltung, wirtschaftlichen Stärke und kulturellen Schöpferkraft erreicht. Ein innerer Niedergang setzte ein, auch wenn dieser freilich im 17. Jahrhundert wiederholt von politischer Erholung unterbrochen war. Mit den Entdeckungen der Seewege zu den östlichen Teilen der Erde durch europäische Seefahrer seit dem Ende des 15. Jahrhunderts hatten sich die Handelsströme zu verändern begonnen. Die klassischen Handelsrouten zwischen Europa und dem Mittelmeer im Westen und Asien im Osten verloren an Bedeutung. Die Schwächung der ökonomischen Grundlage hatte die Schwächung der Zentralgewalt und mithin die Stärkung zentrifugaler Kräfte im Reich zur Folge. Die Verstrickung der Prinzen und Sultane in die Intrigen des Hofes und des Harems bedeutete einen Verlust an Führungsstärke, der nur epochenweise durch kraftvolle Persönlichkeiten unter den Großwesiren aufgewogen werden konnte. Zunehmend gerieten die Sultane auch unter den Einfluss der Janitscharen, einer Truppe, die zeitweise zur Soldateska degenerierte, die kaum noch von der politischen oder militärischen Führung kontrolliert werden konnte.

 Der Niedergang des Osmanischen Reichs im Verlauf des 18. Jahrhunderts war ebenso wenig ein linearer Prozess wie die Gestaltung seiner Beziehungen zu Europa. Gelegentliche militärische Siege und innere Reformen schienen den Bestand des Reichs zeitweilig zu konsolidieren. Auch werden die Beziehungen zu den europäischen Mächten keineswegs durch politische und militärische Konflikte hinreichend beschrieben. Denn in Europa eröffnete das Schwinden der »türkischen« Bedrohung neue Perspektiven auf die osmanische und islamische Kultur.Wenige Jahre nach der gescheiterten Belagerung von Wien eroberten die Erzählungen von 1001 Nacht Europa im Sturm; 1704 erschien in Frankreich die erste Übersetzung in eine europäische Sprache. Denker und Dichter des 18. Jahrhunderts brachten ihre Kritik an den politischen und gesellschaftlichen Zuständen in Europa im Gegenbild »orientalischer « Zustände zum Ausdruck. In der berühmten Ringparabel in Lessings Drama »Nathan der Weise« schließlich werden Judentum, Christentum und Islam als gleichwertig beschrieben. Und in seinem »West-Östlichen Diwan« flüchtet sich der Dichter Goethe in den »reinen Osten, Patriarchenluft zu kosten«.

 Auf der osmanischen Seite öffneten sich Hofkultur und Architektur europäischen Einflüssen. Die »Tulpenzeit« (lale devri) unter Ahmed III. (1703–1730) war gekennzeichnet durch einen kultiviert-verschwenderischen Lebensstil. Man vertrieb sich die ...

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