Modell Erdoğan – Atatürk - März 2017

Veröffentlicht: Freitag, 07. April 2017 09:02


Am 3. März 1924 erklärte die Große Türkische Nationalversammlung das Kalifat für abgeschafft. Das war der Wille Mustafa Kemals (seit 1934 Atatürk). Die Maßnahme hatte eine innen- und außenpolitische Dimension: Die junge Republik sollte laizistisch verfasst sein. Zugleich sollte sie als Nationalstaat ausschließlich den Interessen der „türkischen Nation“ verpflichtet sein. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts hatten die Sultane in Konstantinopel ihre kalifische Würde betont. In den Zeiten des Niedergangs des Osmanischen Reiches suchte der Herrscher panislamische Unterstützung gegen die europäischen Mächte, die dabei waren, das Reich zu zerlegen. Die Absage an das Kalifat bedeutete zugleich den Austritt der jungen Türkischen Republik aus einer islamisch geprägten Staatengemeinschaft.

In der Türkei des Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan hat der Islam einen neuen Stellenwert. Auch er appelliert ständig an die Türkische „Nation“. Aber seine Nation hat eine islamische Konnotation: Es ist eine Nation frommer Muslime. Etwa in dem Sinne seines geistig-politischen Ziehvaters Necmettin Erbakan (starb 2011). Der Begründer des politischen Islam in der türkischen Politik bekannte sich zu einer „nationalen Sicht“, türk. millî görüş: national im Sinne der „Nation“ der Muslime. Eine von Erbakans ersten Amtshandlungen in seiner kurzen Zeit als Ministerpräsident 1996/7 war die Gründung der D-8, eines islamischen Pendants der G-8. Mitglieder waren neben der Türkei Nigeria, Ägypten, die Islamische Republik Iran, Pakistan, Bangladesch, Malaysia und Indonesien. Unter dem Druck des Militärs musste Erbakan im Juni 1997 seinen Rücktritt einreichen.

Die „Nation“ frommer Türken sieht Erdoğan ständig bedroht. Das Verschwörungsdenken macht die Feinde im Inneren wie im Äußeren aus: Im Inneren ist es die „Gülenistische Terrororganisation“. In der Außenpolitik sieht er Kräfte am Werk, die die türkische Nation nachhaltig zu schwächen bemüht sind. Ziemlich unverblümt identifiziert er sie mit „dem Westen“. Der gescheiterte Militärputsch vom 15. Juli 2016 hat diese Sehweise noch einmal verschärft.

Gern lässt sich Erdoğan unter gigantischen Konterfeis von Atatürk ablichten. Dessen Weltanschauung lehnt er zwar ab. Aber auf der anderen Seite steht Atatürk für den türkischen Staat und dessen Stärke. Wie Atatürk als Gründer der Türkischen Republik und starker Präsident vom Zentrum der Macht aus die türkische Gesellschaft nach seinem Willen geformt hat, so will es Erdoğan auf seine Weise. Die „neue Türkei“, die er dauernd beschwört, soll stark wie unter Atatürk, aber zugleich konservativ-religiös sein wie Erdoğan. Dies als „islamischen Kemalismus“ zu bezeichnen, ist nicht völlig unzutreffend.

Das geplante Plebiszit zur Änderung der Verfassung könnte die Türkei zu einer islamischen Republik werden lassen. Nicht nach dem schiitish-iranischen Modell; aber im Sinne eines konservativ-sunnitischen Staatsverständnisses: Demokratische Institutionen – so etwa politische Parteien - bleiben erhalten, werden aber inhaltslos. Die Nation ist unitär islamisch und geprägt von einem Führer, der seine Legitimation und sein Charisma aus der Religion ableitet. Unabhängige Institutionen (z.B. die Justiz) wird es nicht mehr geben; alles ist dem Willen des Führers unterworfen. Andersdenkende und religiöse Minderheiten – wie etwa die Aleviten – sind allenfalls geduldet.

Nach innen ist die sunnitische Wandlung der Gesellschaft weit fortgeschritten. Das gilt unter anderem für das Erziehungssystem, welches zunehmend auf „islamischen“ Werten gründet. Der dschihad wurde in den Lehrplan der religiösen Imam- Hatip Schulen aufgenommen. Nicht mehr unterrichtet wird die Evolutionstheorie. Informationen zu den säkularen Gründern der Republik, namentlich Ismet Inönü, dem „zweiten Mann“ (ikinci adam nach Atatürk), werden eingeschränkt.

Vollzieht sich die islamische Wandlung im Inneren geradlinig und konsequent, so ist die Außenpolitik demgegenüber verwirrend und erratisch. Dass bereits der Ministerpräsident Erdoğan und sein damaliger Außenminister Davutoğlu mit Blick auf die Nachbarschaft der Türkei von post-osmanischen Fantasien besessen waren, war zeitweise unübersehbar. Damit verbunden war eine abnehmende Dringlichkeit, die Beziehungen zur Europäischen Union im Sinne einer Mitgliedschaft zu regeln. Der Ausbruch des „arabischen Frühlings“ aber stürzte die Außenpolitik des Landes geradezu in ein Chaos. Das Ägypten des Muslimbruders Muhammad Mursi hatte es Erdoğan angetan. Das aber brachte ihn in Schwierigkeiten mit Saudi-Arabien und dem Regime des Putschgenerals as-Sisi in Ägypten (seit Juli 2013), die die Muslimbruderschaft als terroristische Organisation einstuften. Die ambivalente Einstellung zu terroristischen Organisationen wie der Nusra-Front und des Islamischen Staates in Syrien und im Irak taten eine übriges, ein schräges Licht auf die Außenpolitik der Türkei in ihrem geopolitischen Umfeld zu werfen. Die Bemühungen, die Isolierung zu überwinden, ließen Ankara die diplomatischen Beziehungen zu Israel normalisieren; dies nachdem Erdoğan Israels Politik über Jahre teilweise in den übelsten Tönen beschimpft hatte. Auch das Schicksal der muslimischen Krimtataren war Ankara keines Protestes wert, als diese im März 2014 von Putin Russland eingegliedert wurden.

Ein Dilemma schließlich tut sich auch in den Beziehungen zum schiitischen Iran auf. Seit der Gründung der Islamischen Republik galt das Motto: Unterschiede der Systeme, aber konvergierende, insbesondere wirtschaftliche Interessen. Dieser Spagat wird schwieriger, je mehr sich Ankara wieder Saudi-Arabien annähert, das sich von Iran bedroht sieht. Und um die Verstrickung weiter zu komplizieren: In Sachen der Zukunft des Regimes von Baschar al-Asad in Damaskus sucht Ankara die Abstimmung mit Teheran (und Moskau) – was wiederum in Riyadh auf Unmut stößt.

Die Abschaffung des Kalifats durch Atatürk im Jahr 1924 hatte die Türkei aus den Verstrickungen in religiösen Netzwerken lösen sollen. Die Rückkehr der Religion in die Außenpolitik führt das Land dorthin zurück. Die Türkei hat ihren Kompass verloren; sie ist orientierungslos.


Udo Steinbach