Europäischer Islam oder Islam in Europa? – August 2010

Veröffentlicht: Montag, 23. August 2010 20:30

Es ist erstaunlich und ermutigend zugleich, wie rasch der Islam und die Muslime in Deutschland ihren Platz gefunden haben. Diese Feststellung soll nicht die zahlreichen Spannungen und Konflikte, Verwerfungen und belasteten Wahrnehmungen von einander wegreden, die tagtäglich in den Medien transportiert werden und tatsächlich Teil des gesamtgesellschaftlichen Zustands dieses Landes in der Gegenwart sind. Aber sie soll den Blick auf jene – viel versprechenden und zum Teil bereits erfolgreichen – Bemühungen lenken, in dieser Gesellschaft zu einem stabilen Zusammenleben zu finden, das auf Werten und Institutionen beruht, die Integration im Sinne eines Prozesses ermöglichen, der auf der Zustimmung beider Seiten beruht. Was der Leser in dem hier vorgelegten Buch findet, ist nichts Geringeres als der Entwurf einer Theologie der Integration. Nicht zuletzt auch dieses Buch ermutigt eingangs getroffene Feststellung.

Mit der Einrichtung von Lehrstühlen für Islamische Theologie an einer Reihe von deutschen Universitäten ist ein wichtiger Schritt getan worden, die Muslime in Deutschland an jener theologischen Erneuerung des Islams teilhaben zu lassen, die in Teilen der islamischen Welt längst begonnen hat. Das ist nicht nur wichtig mit Blick auf die Ausbildung muslimischer Funktionsträger innerhalb der in Deutschland lebenden Gemeinschaft von Muslimen. Auch wird damit der Einfluss religiöser und religiös-politischer Kräfte von außerhalb Deutschlands (dies gilt aber auch für andere Länder Europas) zurück gedrängt. Ayatollah Ghaemmaghami aber geht weiter: Ausgehend von der weithin anerkannten Notwendigkeit, die islamische Religion von innen heraus neu zu verstehen, schafft er ein theologisches System eines „Islams in Deutschland (Europa)“, das auf die spezifischen Herausforderungen eingeht, mit denen Muslime in Gemeinwesen konfrontiert sind, die auf ganz anderen religiösen, kulturellen und politischen Traditionen beruhen, als dies in jenem Teil der Welt der Fall ist, die - sehr pauschal – als „die islamische“ bezeichnet wird.

Ayatollah Ghaemmaghami hat seine Jahre als Leiter des Islamischen Zentrums in Hamburg genutzt, die Auseinandersetzung um den Islam in Deutschland nicht nur aus der Nähe, sondern auch sine ira et sudio zu beobachten. Klarsichtig stellt er fest, das der Islam „in diesem Gebiet nach wie vor ein importiertes Phänomen und ein Gast, und zwar ein unwillkommener Gast, geblieben“ sei. (S. 143) An diesem Punkt aber beginnt die Herausforderung: Appelle an die Intellektuellen und Eliten auf beiden Seiten, sich ihrer Verantwortung zu stellen und an einer Ordnung zu arbeiten, innerhalb derer Gastgeber und Gäste gleichermaßen Bürger sein können, durchziehen das Buch wie ein roter Faden.

Dabei räumt der ein, dass dieser Prozess nicht beliebig verläuft, sondern die Mehrheitsgesellschaft, in die hinein Muslime einwandern, die Koordinaten der Ordnung setzt, die das künftige zu Hause bildet. „Jede Gesellschaft hat das Recht, ihren Werten treu zu bleiben und Gesetze zum Schutz der Werte und Identität zu erlassen.“ (S. 61) Im gegebenen Fall sind dies Demokratie und Pluralität sowie ein für die Mehrheitsgesellschaft unverzichtbarer Kanon politischer Werte, die als Bürgerrechte in der europäischen Tradition der Menschenrechte wurzeln. Der Säkularität, d.h. der Trennung des politischen und religiösen Raumes, kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. Wie können Muslime an diesen Grundwerten teilhaben und zugleich an ihrem Glauben festhalten? Wie findet die islamische Religion, die über viele Jahrhunderte Ordnungen ganz anderer Art prägte, ihren Platz? Steht die Schari’a, das aus Koran und Prophetenüberlieferung hergeleitete religiöse Recht, einem Leben in einem Staat und einer Gesellschaft entgegen, in denen nicht nur Staat und Religion getrennt sind, sondern die Grundwerte eine christlich-abendländische Einfärbung haben?

Der Beantwortung dieser Fragen stellt Ayatollah Ghaemmaghami eine Aufforderung voran, die das Buch durchzieht: Der Respekt vor der Würde aller, insbesondere aber auch des gläubigen Menschen, verbietet jeden Zwang in religiösen Angelegenheiten. Säkularität dürfe nicht bedeuten, die Religion und Religiosität als solche in Frage zu stellen. Dann aber kommt er theologisch zu seinem eigentlichen Anliegen: Die Botschaft des Einen Gottes dergestalt sichtbar zu machen, dass sie in allen Teilen der Welt und zu allen Zeiten von den Gläubigen befolgt und gelebt werden kann. Es gilt, den Schutt der Zeit, der das Wort Gottes durch die Geschichte hindurch stets von neuem verdeckt hat, abzuräumen. Auf diese Weise wird die Voraussetzung geschaffen, dass das Wort Gottes mit dem „Geist“ einer jeweiligen Kultur und Gesellschaft eine Symbiose eingeht. „Westliche und östliche Gesellschaften unterscheiden sich…auch durch den Geist, der in diesen Gesellschaften herrscht.“ (S. 60). Das theologische Prinzip des Idschtihad, d.h. die selbständige Auslegung der grundlegenden Quellen des Islams seitens kompetenter Theologen und Rechtsgelehrter im Lichte sich verändernder Gegebenheiten von Ort, Zeit und Gesellschaft wird das Fundament im Haus des „europäischen Islams“. Der Islam erhält buchstäblich eine neue Weltläufigkeit. Denn im Vordergrund der Begegnung der Religionen stehen nicht mehr Abgrenzung oder gar Konflikt, sondern die Suche nach dem gemeinsamen Kern, der allen Religionen innewohnt. Das hat weit reichende Konsequenzen: „Wichtig ist, dass wir jenseits aller unterschiedlichen religiösen Vorstellungen an der menschlichen Würde eines Menschen unabhängig von seiner Religion, sei es Judentum, Christentum, Islam, Hinduismus, Buddhismus oder ein anderer Glaube, festhalten.“ (S. 137) An dieser Stelle offenbart sich dem Leser die geistig-kulturelle Dimension der Weltläufigkeit – die Vertrautheit mit der europäischen, insbesondere deutschen Aufklärung. Mehrfach wird auf Lessings „Ringparabel“ verwiesen. Sätze wie: „Ein Jude ist ein Mensch, bevor er Jude ist. Und ein Christ oder Muslim ist ein Mensch, bevor er Christ oder Muslims ist“, (S. 118) sind nahezu wörtliche Zitate daraus. Die Theologie der Integration gründet auf der Theologie der Toleranz.

„Europäischer Islam“ oder „Islam in Europa“? Der Begriff hat in Europa in den letzten Jahren in dem Maß Konjunktur erfahren, in dem sich die Forderung nach Integration mit der Forderung nach Ablösung von den Herkunftsländern und der Schaffung eigenständiger Strukturen und Rechtsverhältnisse der muslimischen Gemeinschaften in den europäischen Gesellschaften verband. Demzufolge waren die Wortführer des „europäischen Islams“ vornehmlich Politik- und Islamwissenschaftler. Mit Ayatollah Ghaemmaghami meldet sich jetzt ein Theologe mit dezidierter Stimme zu Wort. Der Islam – „mit seinen konstanten und gemeinsamen Elementen“ - habe sich in der Geschichte je nach den kulturellen, gesellschaftlichen und historischen Gegebenheiten der Länder, in denen er sich ausbreitete, angepasst. In diesem Prozess der „Beheimatung“ befänden sich der Islam und die Muslime in Europa – nicht als Islam oder Muslime in Europa, sondern als „europäischer Islam“, „europäische Muslime“. „Es ist eine Realität, dass keine Gesellschaft die Bildung einer Parallelgesellschaft neben der Hauptgesellschaft akzeptiert.“ (S. 143) Der Islam ist in Europa angekommen; Muslime sind integraler Bestandteil europäischer Gesellschaften. Muslime leben nicht an ihren Rändern; sie haben sich für das Gemeinwesen aktiv zu engagieren. Und die Schari’a? In seinem Privatleben mag sie der Muslim berücksichtigen; als Mitglied der Gesellschaft, innerhalb derer er lebt, hat er ipso facto mit ihr einen Vertrag geschlossen, der ihn verpflichtet, deren Vorschriften, Gesetze und Bedingungen „zu berücksichtigen“. (S. 71)

Ghaemmaghami ist nicht weltfremd. Deshalb kennt er die Schwierigkeiten und Hindernisse auf dem Weg der „Beheimatung“ des Islams in europäischen Gesellschaften. Deren größtes ist die Gewalt im Namen der Religion, des Islams. Eine „Epidemie“ nennt er die Ideologisierung der Religion. Sie ist der absolute Gegenentwurf zu seiner Theologie der Toleranz; ist doch das Ziel der Extremisten, „in einer Hölle der Gewalt das Paradies der Glückseligkeit“ zu errichten. (S. 31) Einer breiteren deutschen Öffentlichkeit ist der Ayatollah durch seine Fatwa gegen den Terror bekannt geworden. Sie wird in diesem Buch noch einmal abgedruckt. Klarer kann man sich „nach islamischem Recht“ nicht gegen Terrorismus und Töten von unschuldigen Menschen aussprechen. Terror als Selbstmordaktion kann nicht Märtyrertum sein. Nach islamischer Auffassung sind Leben und dessen Erhaltung das höchste Gut. Aus religiöser Sicht sind alle Muslime verpflichtet, sich für Ordnung und Sicherheit jener Gesellschaften einzusetzen, in denen sie leben.

Damit sucht Ghaemmaghami nicht nur Vertrauen wieder herzustellen, das die Grundlage des Zusammenlebens der Menschen und mithin auch seines Gesellschaftsentwurfs auf der Grundlage eines europäischen Islams ist. Ganz grundsätzlich nimmt er vielmehr ein Thema auf, das Papst Benedikt XVI. in seiner Regensburger Rede (September 2006) in den Raum gestellt hat. Ausgehend vom Vorwurf der Gewalttätigkeit der islamischen Religion hatte dieser ein christliches Gegenkonzept im Dreieck von Religion, Vernunft und Frieden in der Perspektive christlicher Religion entworfen. Ghaemmaghami nimmt auf den Papst nicht unmittelbar Bezug, doch scheint dieser auf, wenn an zahlreichen Stellen betont wird, dass Vernunft und Rationalität Prinzipien seien, auf denen die islamische Religion und deren Interpretation seitens der Gelehrten aufbauen. Gott ist der Schöpfer des Menschen und der Überbringer der Rechtleitung. Es ist unmöglich, dass Gott als Schöpfer einerseits Freiheit und Vernunft gibt und andererseits in der Religion Anweisungen gegen die Freiheit und Vernunft erlässt. So kann es keinen „heiligen Krieg“ geben – keine islamische, sondern eine „mittelalterliche Idee“. Aus qur’anischer Sicht sei der Krieg das hässlichste Phänomen der Menschen. Wenn dieses unmenschliche und hässliche Phänomen im Namen der Religion gerechtfertigt werde, so gehe „die qur’anische Sehweise so weit, dass dies als Unglaube bezeichnet wird“. (S. 49)

Ayatollah Ghaemmaghami ist – natürlich – eine Gelehrtenautorität. Sein Urteil hat hohes Gewicht. Er ist aber auch ein aktiver Teilnehmer bei der Gestaltung der Gesellschaft. Dieses Buch reflektiert diese doppelte Rolle. Systematische theologisch-philosophische Reflexionen bilden seinen Kern. Zahlreiche Essays, öffentliche Stellungnahmen, Reden, Medienbeiträge und Interviews ergänzen die Gedanken. Anrührend aber sind die Grußbotschaften aus Anlass christlicher und jüdischer Feiertage. Hier wird der europäische Islam gelebt. In seiner Rolle als Denker und Mahner hat auch der Holokaust seinen Platz: Denn „das Wissen von diesem Verbrechen wird die menschliche Verantwortung und ethische Verantwortlichkeit der Menschen immer wach halten“. (S. 196)

Das vorliegende Buch zeugt auch von großem Mut. Es ist ihm nachhaltig zu wünschen, dass es Einfluss haben wird auf die öffentliche Debatte um Zukunftsthemen wie das Verhältnis von Religion und Gesellschaft im allgemeinen und um den Islam in unserer Gesellschaft im besonderen. Das Buch wird Skeptiker und Gegner finden. Jene werden sich daran stoßen, die den Islam und Muslime unabänderlich für einen Fremdkörper in westlichen Gesellschaften halten; aber auch jene unter den Muslimen, die europäische Gesellschaften für mit den Prinzipien und Regeln islamischen Glaubens und Lebens für unvereinbart halten und es vorziehen, sich gegen sie abzuschotten. Von jenen ganz zu schweigen, die unsere Gesellschaft aktiv bekämpfen. Es ist ein großer Stein, der da in ein ohnehin unruhiges Wasser geworfen
wird.

Udo Steinbach