Wohin treibt der Nahe Osten? - März 2020

Veröffentlicht: Donnerstag, 26. März 2020 17:33

 

Politische Interessen und Ordnungskonzepte im Widerstreit

22. bis 24. November 2019
Europäische Akademie Berlin

Protokoll der Tagung
Armin Triebel

 

Einführungsvortrag Prof. Dr. Udo Steinbach
Der neue Nahe Osten. Perspektiven auf eine Utopie

Der Ausdruck „treibt“ im Titel der Tagung sei vielleicht etwas irreführend, gab der Vortragende gleich zu beachten. Es solle hier eher um Perspektiven gehen für diese Region, die sich „im freien Fall“ befinde.

Als ein Grundproblem in der Region nannte Steinbach im Folgenden das Dilemma der Verquickung von Machtpolitik und Religion. Außerdem zog er eine Linie von der derzeitigen Misere zu den Pariser Vorort-Verträgen. Er sprach vom immer noch wirksamen „schleichenden Gift“ der Abmachungen von 1919. Die Mandatspolitik europäischer Mächte nach dem Ersten Weltkrieg habe in den Augen der Gesellschaften des Nahen Ostens die Glaubwürdigkeit Europas in weitem Maße beschädigt.

Zur näheren Charakterisierung der gegenwärtigen Krise nannte er vorbereitend drei „Tatbestände“:

1. Die Elemente der Krise

1.1    Keines der Regimes (evtl. mit Ausnahme von Tunesien) habe eine „Vision vom Morgen“, d.h. eine langfristig tragende Idee von der eigenen Zukunft. Deswegen rechtfertige sich übrigens auch die Wortwahl „Regime“. Alle suchten ihre Legitimation in der Außenpolitik.

1.2    Es gibt in der Region keine Ordnungsmacht.

1.3    Es gibt keine stabilisierende internationale Ordnung.

ad 1.1

Iran. Die Revolution 1978/79 war „großartig“. Ihre welthistorische Bedeutung verglich Steinbach mit 1789. Indes sei sie nicht als eine Nachahmung irgendeines europäischen Musters zu betrachten. 40 Jahre danach biete sich das ernüchternde Bild einer Unterdrückung von Pluralität und Freiheit, einer maßlosen Korruption, eines umfassenden Legitimitätsverlustes. Das System stecke in einer Sackgasse. Außenpolitisch störe der Iran systematisch alle Ansätze einer Stabilisierung in Syrien.

Saudi-Arabien: Der Staat befinde sich in der größten Krise seit 1932. Im Jemen habe er auf einem Nebenschauplatz seiner machtpolitischen Auseinandersetzung mit Iran zum Schaden aller Beteiligten einen  Konflikt angezettelt.

Türkei. Mit Recht habe Orhan Pamuk die Jahre 2006 bis 2011 als die freiesten Jahre der Republik bezeichnet. Heute kennzeichne autokratische Machtausübung die Innenpolitik (Macchiavelli sei dagegen ein Waisenknabe). Erdoğans Politik sei von fragwürdigen post-osmanischen Phantasien bestimmt.

Ägypten — war mal eine Ordnungsmacht; das Land versinke jetzt im Sumpf wirtschaftlicher und sozialer Probleme und  Autokratie.

Israel, eine Regierung „ohne moralischen Kompass“; gleichwohl werde das Land noch immer als die einzige Demokratie im Nahen Osten bezeichnet. Seit langem finde die Politik der Regierung ihre Legitimation wesentlich in der Siedlungspolitik.

ad 1.2

Zwischen Saudi-Arabien und Iran tobe ein Machtkampf unter religiöser Maskierung, besonders heftig, nachdem die USA 2003 den Irak aus dem Spiel genommen haben.

Für die Konflikte zwischen Saudi-Arabien und Qatar, Saudi-Arabien und Jemen und für Erdoğans Einsatz der Türkei gegen die Kurden, gilt besonders, dass fehlende innenpolitische Legitimation durch eine aggressive Außenpolitik kompensiert werde.

Eine Rivalität Ägypten / Qatar wird in Libyen ausgetragen.

ad 1.3

Das bisher letzte Zeitfenster zur Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts sei die zweite Hälfte der 1990er Jahre gewesen. Die Zeit danach sei laut Steinbach vom Versagen der USA geprägt gewesen. Insbesondere habe die Regierung Obama dilettantisch und unentschlossen gehandelt.

Dagegen beschrieb Steinbach die Politik Russlands im Nahen Osten als „genial“. In Bezug auf Russland dürfe man nicht vergessen, dass dieses Reich seit Katharina d. Gr. eine Nahost-Macht sei.

Europa indes stehe an der Seitenlinie.

 2. Die „Utopie“

Als Einleitung zum zweiten Teil seines Vortrages erinnerte Steinbach an die griechische Bedeutung des Wortes Utopie als „Nicht-Ort“. Es sei hier die Frage, wie der Nahe Osten von einem Nicht-Ort wieder zu einem topos  in der Region werden könne. Dazu nannte er einen Katalog von zehn Bündeln von Maßnahmen, bei denen v.a. Europa eine maßgebliche Rolle spielen müsse. Dafür sei es notwendig, den Nahen Osten „inklusiv“ wahrzunehmen; denn „der Nahe Osten ist ein Teil von Europas Nachbarschaft“.

Zehn Dimensionen zur Rekonstruktion des Nahen Ostens

  1.  Zuerst solle US-Präsident Trump als eine Chance für Europa begriffen werden. Die erratische Politik des amerikanischen Präsidenten generiere sowohl die Notwendigkeit als auch die Spielräume für eine europäische Nahostpolitik.

  2. Sodann sei eine neue politische Großwetterlage unter Einbeziehung von Russland herzustellen. Im Unterschied zu den USA ist Russland vor dem Hintergrund seiner Geschichte eine wirkliche Nahostmacht. Die Großräume Europa, Naher Osten und Russland müssten in eine neue Beziehung gesetzt werden.

  3. Der Iran müsse „aus der Ecke geholt“ werden. Ohne Einbeziehung des Iran in eine neue und Ordnung werde es keine Stabilität in der Region geben. Dazu müssten die gegen den Iran verhängten Sanktionen aufgehoben werden. Steinbach versuchte das Negativbild, welches dem Iran anhaftet, zu korrigieren, indem er auf die positiven Initiativen der iranischen Politik in der Vergangenheit hinwies. So sei es der Iran gewesen, der 1988/1995 den Dialog über Menschenrechte mit Deutschland in Gang gebracht habe. Ressentiment und Misstrauen gegenüber dem Westen sei dem Iran nicht zu verdenken: Im Kampf gegen die Taleban habe er im Herbst 2001 die „Nordallianz“ und somit den Krieg der USA und der internationalen Gemeinschaft gegen die Taleban unterstützt, sich aber wenig später (2002) von Präsident George W. Bush auf der Achse des Bösen platziert gefunden.

  4. Die Türkei muss wieder nach Europa zurückgeführt werden.

  5. Die kurdische Frage lösen! Aber ohne Gründung eines kurdischen Staates.

  6. Iran und Saudi-Arabien zusammenbringen: das wäre eine realistische Aufgabe für die deutsche Diplomatie. In diesem Zusammenhang sieht Steinbach die Herausforderung, die Politik im Nahen Osten aus der Falle des Konfessionalismus zu befreien.

  7. In Syrien kann und darf das Assad-Regime nicht überleben. Durch eine breite politische Zusammenarbeit ist ein lebensfähiges Syrien zu schaffen.

  8. Der Palästina-Konflikt ist eine europäische Frage, und sie muss durch Europa gelöst werden. Die israelische Besatzung hat Hass und einen Haufen von Feindbildern hervorgebracht. Diese Besatzung muss und kann nur durch Druck auf Israel beendet werden. Steinbach sieht nur eine Zwei-Staaten-Lösung als realistisch an. Eine solche Lösung müsse Bestandteil einer „nahöstlich-europäischen Ordnung“ werden.

  9. In einer solchen „nahöstlich-europäischen Ordnung“ müsse insbesondere ein Pakt zur sozialen und ökonomischen Entwicklung des Nahen Ostens geschmiedet werden.

  10. Schließlich wäre ein „nahöstlich-europäisches Forum“ einzurichten, um „die geistige Leere“, die in der Region um sich gegriffen habe, zu überwinden und um Ideen, Ideale und Werte zu entwickeln. Steinbach schwebt ein Aufgebot von Intellektuellen vor, die im Nahen Osten der Moderne den Weg bereiten. Er erinnerte an Präsident Mohammad Chatamis Bekenntnis zur Moderne, als dieser im Juli 2000 in Weimar anlässlich der Einweihung des Denkmals für Hafis und Goethe für einen Dialog zwischen Orient und Okzident warb.
     

Hafis-Goethe-Denkmal in Weimar

Das Hafis-Goethe-Denkmal in Weimar zum Internationalen Jahr des Dialoges
der Kultur 2000, geschaffen von Ernst Thevis und Fabian Rabsch.
Foto: Imruz

 

Diskussion

In der anschließenden Diskussion wurden im Wesentlichen zwei Fragen gestellt. Einige Zuhörer fragten nach der Stabilität bzw. Legitimität von Grenzen in der Region und ob – etwa im Hinblick auf die Kurden – bestehende Staatsgrenzen in Frage gestellt werden müssten. Hier machte Steinbach sehr klar, dass die heutigen Grenzen nicht verändert werden dürften. Dabei müsse man sich von der Vorstellung lösen, dass Identitäten mit Staatsgrenzen deckungsgleich sein müssten. Identitäten könnten im Gegenteil quer zu Staatsgrenzen liegen. Sie können sie überschreiten, während innerhalb eines Staates mehrere Kollektive mit unterschiedlichen Identitäten Platz finden können. Der zentralistische Staat, zumal im Nahen Osten, gehöre der Vergangenheit an. Die Verfassungen der Zukunft müssten dieser Tatsache Rechnung zu tragen.

Im Hinblick auf den starken Einfluss der Evangelikalen auf die US-amerikanische Außenpolitik wurde in Zweifel gezogen, ob die 2-Staaten-Lösung nicht durch die Ereignisse bereits überrollt sei und ob man in Zukunft an Baschar al-Assad überhaupt noch vorbeikommen werde. Steinbachs Votum hierzu war, dass man es in der Hand habe, Assad – etwa über den Wiederaufbau - zu finanzieren oder nicht. Er dürfe eben nicht finanziert werden. Vielmehr sollte Europa bemüht sein, für eine zukunftsfähige Politik Russland, den Iran und die Türkei ins Boot zu holen. Wichtig sei es für die Europäer, sich zu öffnen und einen breiten Rahmen für umfassende Zusammenarbeit aufzutun.

Aber wer sind die Akteure in Europa? Etwas provokant wurde gefragt, was eigentlich Deutschland mit der Nahostproblematik zu schaffen habe; schließlich seien es Frankreich und England gewesen, die die Keime für die derzeitige Problematik gelegt hätten. Offenbar sei Europa im Augenblick, entgegnete Steinbach, handlungsunfähig. Mehr noch: Gegenüber den Syrern habe es eine doppelzüngige Politik gemacht, indem man einerseits Assad diplomatisch isoliert, dann aber nichts Konkretes mehr gegen ihn unternommen habe; man habe die Syrer allein gelassen. Um als „softpower“ ernst genommen zu werden, brauche die europäische Politik eine berechenbare militärische Komponente, die unter klaren Vorgaben einzusetzen es auch bereit sein müsse. „Heute sind wir alle gefordert“, sagte Steinbach und meinte damit, dass die Krise im Nahen Osten – nicht zuletzt über die Tatsache gigantischer Flüchtlingsströme - jeden in Europa betreffe.