Jenseits der Utopie: Eine road map für den Nahen Osten - Dezember 2018

Veröffentlicht: Mittwoch, 05. Dezember 2018 19:19


Der Nahe Osten steht am Scheidewege: Er kann durch einen großen Krieg in die absolute Katastrophe stürzen. Israel und Iran wären die hauptsächlichen Akteure; die Konflikte in Syrien, im Libanon und Gaza könnten die Lunten sein, die die Bombe zur Explosion brächten.

Er kann aber auch einen Pfad des Friedens und der Versöhnung  beschreiten, an dessen Ende eine Art „neuer Naher Osten“ entstünde.

Die politische Landkarte eines „neuen Nahen Ostens“ zu zeichnen, bedeutet von einer Utopie zu sprechen. Um aber der Katastrophe einer kriegerischen Konfrontation im Nahen Osten zu entgehen, die unabsehbare Auswirkungen auch auf Europa haben würde (die Stichworte sind Terrorismus und Flüchtlingsströme), ist es angezeigt, eine road map zu entwerfen, auf der die Utopie in eine Wirklichkeit transformiert werden kann.

Die Akteure

Fünf Mächte bestimmen gegenwärtig die machtpolitische Auseinandersetzung im Vorderen Orient: Iran, Saudi Arabien, die Türkei, Israel und Ägypten. Sie alle sind in einem Nullsummenspiel befangen, das sie in einer Mischung von direkter Konfrontation gegeneinander oder durch Einmischung in die inneren Angelegenheiten schwächerer bzw. von inneren Krisen heimgesuchter Staaten zu gewinnen bestrebt sind. Schauplätze dieser Einmischungen und Stellvertreterkriege sind Syrien und der Irak; Jemen und Qatar; Libanon und Palästina sowie Libyen. Das Ergebnis dieses machtpolitischen Ringens sind die innere Schwächung der Akteure bzw. deren Hinwendung zu autokratischer Regierungsführung. Keiner von  ihnen kann als Sieger gelten; aber die wirtschaftlichen Kosten sind enorm.

Die internationalen Akteure auf dem Schachbrett des Nahen Ostens sind die USA, Russland und einzelne Mitgliedsländer der Europäischen Union. Deren Interessen und modi operandi sind sehr unterschiedlich. Ihre Politik ist nicht  nur nicht koordiniert, wenn nicht sogar konfrontativ.

Die USA suchen seit Präsident Obama den Rückzug aus der Region, in der sie erst seit dem Ende des 2. Weltkriegs als Macht in Erscheinung getreten sind. Präsident Trump nimmt den Nahen Osten unter diffusen wirtschaftlichen Interessen der USA wahr. Auch macht er sich israelische Standpunkte in der Palästinafrage  und in der Bewertung der Sicherheit Israels zu eigen. Insbesondere teilt er die Einschätzung des israelischen Ministerpräsidenten, dass Iran die Quelle alles Bösen im Nahen Osten und die Bedrohung Israels schlechthin sei.

Russland unter Präsident Putin sucht wieder im Nahen Osten Fuß zu fassen, wo es mit dem Zerfall der Sowjetunion an Einfluss verloren hatte. Damit knüpft Putin an die Tatsache an, dass Russland spätestens seit Katharina II. (1762-1796) eine Nahostmacht gewesen ist. Er strebt also nach der Wiederherstellung einer historischen Rolle Russlands. Die militärisch unterfütterte russische Politik in Syrien war der Auftakt zur Stärkung der Beziehungen Russlands mit den meisten Mächten im Nahen Osten insgesamt.

Die Europäische Union Politik hat über die Jahre nahezu gelähmt auf der Seitenlinie des nahöstlichen Schauplatzes gestanden. Abgesehen von geringfügigen militärischen Operationen im Zusammenhang mit der Bekämpfung des 2014 proklamierten „Islamischen Kalifats“ haben sich die Mitgliedstaaten auf die Leistung humanitärer Hilfe beschränkt. Diese Schwäche ist umso auffallender, als die Beziehungen zwischen Europa und dem Nahen Osten durch die Jahrhunderte durch enge politische, wirtschaftliche und kulturelle Verflechtungen gekennzeichnet sind. Die politische Neuordnung des Nahen Ostens nach dem 1. Weltkrieg durch europäische Mächte hat die Rahmenbedingungen für die Entwicklungen der dort neu entstandenen Staaten seither geschaffen. Die Flüchtlingskrise 2015/16 hat die untrennbare Verbundenheit beider Seiten auf dramatische und zugleich tragische Weise bestätigt.

Win-win-Situation statt Nullsummenspiel

Jahrzehntelang war der Konflikt um Palästina der Brennpunkt des politischen Geschehens im Nahen Osten. Er ist in dieser Funktion durch die konflikthafte Beziehung zwischen Iran und Saudi-Arabien abgelöst worden. Eine roadmap für die Stabilisierung des Nahen Ostens muss mit Bemühungen beginnen, die Führungen in Teheran und Riyadh zu der Einsicht zu bringen, dass Sicherheit, Stabilität und wirtschaftliche Entwicklung nicht im Gegeneinander, sondern im Ausgleich und in der Verfolgung gemeinsamer politischer Ziele liegen. Es gilt also, aus dem Null-Summen-Spiel eine win-win-Situation zu machen. Das ist keine völlig neue Entwicklung; denn seit der Gründung des saudischen Königreichs 1932 haben die Führungen beider Länder trotz des sunnitisch – schiitischen Gegensatzes eher den Ausgleich als die Konfrontation gesucht. Erst die amerikanische Invasion im Irak 2003 und die Zerstörung des Regimes in Bagdad, das einen Puffer zwischen beiden Staaten bildete, sowie die Eskalation der Krise in Syrien ab 2012 haben beide Seiten gegen einander in Stellung gebracht.

Auch für die Führungen in Ankara, Kairo und Jerusalem sollte eine umfassende Befriedung des Nahen Ostens ein anzustrebendes Ziel darstellen. Die Türkei hat mit ihrer Politik in Syrien einen klaren Kompass ihrer Außenpolitik sowohl im Nahen Osten als auch mit Blick auf die internationale Gemeinschaft  verloren. In der krisenhaften Entwicklung der türkischen Wirtschaft ist Ankara auf Hilfe angewiesen, die angesichts der Isolierung des Landes ausbleibt.

In Ägypten hat Präsident Sisi mit dem Putsch das Militär wieder an die Macht gebracht. Die Erwartungen breiter Teile der Bevölkerung, dass es gelingt, den Lebensstandard spürbar zu steigern, sind hoch. Um seinen Machterhalt zu sichern, muss er sich auf die wirtschaftliche Entwicklung konzentrieren. Dies wird nur mit der Unterstützung durch die reichen Staaten im Nahen Osten und durch Investitionen seitens internationaler Partner gelingen. Auch für die Vermarktung der neuen Erdgas-Funde ist die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft erforderlich. Für die Verwirklichung der vitalen Interessen Ägyptens sind Stabilität und Frieden unabdingbare Voraussetzungen.

Israel scheint gegenwärtig der Gewinner der Konflikte im Nahen Osten zu sein. Die Politik von Ministerpräsident Netanyahu strotzt vor Selbstbewusstsein. Aus drei Gründen aber steht die Sicherheit Israels auf tönernen Füßen. Zum einen würde eine weitere islamistische Radikalisierung in der Nachbarschaft des Landes bedrohliche Rückwirkungen auch auf seine Sicherheit haben. Zum anderen kann niemand mit Gewissheit die militärischen Potentiale möglicher Kriegsgegner Israels beurteilen; das  gilt nicht zuletzt auch für die Hizbullah im Nachbarland Libanon. Ein neuerlicher Krieg könnte die Existenz des Landes gefährden. Zum dritten schließlich läuft Israel Gefahr, durch seine Siedlungspolitik international isoliert zu werden. Die Nähe Präsident Trumps zu Ministerpräsident Netanyahu kann nicht Spannungen übersehen lassen, die sich zwischen der israelischen Regierung und der Obama Administration aufgebaut hatten. Sie reflektieren auch einen Teil der amerikanischen Öffentlichkeit, die der israelischen Politik kritisch gegenübersteht. Und in einigen Staaten Europas – darunter Deutschland – hat sich eine breite israelkritische Öffentlichkeit entwickelt. Das Diktum der deutschen Bundeskanzlerin von 2008, dass die Existenz Israels ein Teil der deutschen Staatsraison sei, wird heute von einer Mehrheit der Bevölkerung bestritten.Nur durch einen Ausgleich mit seiner arabischen Nachbarschaft ist die Existenz Israel dauerhaft zu gewährleisten.

Die roadmap

Von einem politischen Ausgleich zwischen Iran und Saudi-Arabien würden positive und konstruktive Impulse für die Stabilisierung des Raumes zwischen dem Golf und dem Mittelmeer ausgehen ausgehen. Das gilt für die beiden Nachbarländer Jemen und Qatar. In beiden Krisen spielt der Konflikt zwischen den beiden Mächten eine die Lage verschärfende Rolle. Eine Beendigung der Konflikte würde – auch im Verbund mit den Vereinigten Arabischen Emiraten - wirtschaftliche Potentiale freimachen, die auf den Wiederaufbau des Jemen und damit auf die Lösung der inneren Konflikte in diesem Land gelenkt werden könnten.
Die Türkei könnte sich dieser Konstellation der vier Mächte anschließen. In der Abwägung Präsident Erdogans zwischen der Unterstützung der Muslimbruderschaft, einer letztlich ephemeren religiös-politischen Gruppe, und des Konflikts mit Saudi-Arabien und Ägypten auf der einen und der Annäherung an Saudi-Arabien mit der Perspektive der Ausweitung des Einflusses der Türkei in der ganzen Nahostregion auf der anderen Seite könnte sich der Machtpolitiker Erdogan für die zweite Variante entscheiden. Gemeinsam mit Russland (und der Europäischen Union) wäre damit eine breite Front aufgestellt, eine zukunftsfähige Lösung der syrischen Frage zu finden.

Auch für die weitere Stabilisierung des Irak würde sich daraus eine positive Perspektive ergeben: Nach der amerikanischen Invasion im Jahr 2003 ist aus dem Staat beinahe ein failed state geworden. Eines der zentralen Probleme für die Zentralregierung in Bagdad nach der Zerschlagung des „Islamischen Kalifats“ auf irakischem Boden ist die Einmischung der Nachbarländer über von ihnen unterstützte politische Parteien. Die Wahlen vom Mai 2018 haben gezeigt, dass die irakische Bevölkerung auf dem Weg ist, das Vertrauen in demokratische Mechanismen zu verlieren.

Eine von der Bevölkerung legitimierte Regierung in Bagdad ist in der Lage, einen Weg zur Lösung der kurdischen Frage zu beschreiten. Diese liegt nicht in der Schaffung eines eigenständigen kurdischen Staates. Ein solcher würde die Änderung der bestehenden Grenzen bedeuten, die nur neue Konflikte in allen Staaten generieren würde, in denen starke kurdische Volksgruppen leben. Eine konföderale Struktur des Staatsaufbaus würde es den Kurden gestatten, ihre kulturelle Identität sichtbar zu machen und zugleich die bestehenden politischen Grenzen nicht zu verändern. Ein derartiger Staatsaufbau könnte auch für die Lösung der kurdischen Frage in der Türkei, Syrien und Iran vorbildhaft sein.

Das Zusammenwirken der großen  islamischen Mächte im Nahen Osten mit dem langfristigen Ziel des Abbaus regionaler Konflikte und der Stabilisierung der Region bedeutet eine Minderung der Bedrohung der Sicherheit Israels. Das Argument, dass Israel durch seine Nachbarn, namentlich Iran, bedroht sei, verliert an Stichhaltigkeit und Überzeugungskraft. Eine solche Entwicklung erhöht ipso facto den Druck auf die Regierung in Jerusalem, sich endlich aktiv auf einen politischen Prozess zur Lösung der palästinensischen Frage einzulassen.

Herausforderung an die Europäische Union

Der vorstehend skizzierte tiefgreifende Wandel des Nahen Ostens kann nicht ohne auswärtige Vermittlung und Unterstützung in Gang gesetzt werden. Nach Lage der Dinge kann dies nur die Europäische Union sein. Vereinfachend gesprochen: An der Entstehung der politischen Ordnung im Nahen Osten nach dem Ende des 1. Weltkriegs 1918 haben europäische Mächte entscheidenden Anteil gehabt. Ein Jahrhundert später erweisen Millionen von Flüchtlingen in der und außerhalb der Region, dass der Nahe Osten einer Neuordnung bedarf. In ganz anderer Weise als in der Vergangenheit ist Europa herausgefordert, an  diesem Prozess Anteil zu nehmen. Nicht mehr durch imperialistisches Diktat; sondern durch partnerschaftliche Teilhabe. Dies in dem Bewusstsein, dass die Zukunft Europas im internationalen System des 21. Jahrhunderts von der Qualität seiner Beziehungen zu seiner Nachbarschaft abhängt.  
Ein handlungsfähiges Europa im Prozess der Neugestaltung des Nahen Ostens? Das klingt gegenwärtig wie eine – zweite – Utopie. Und doch ist diese Vision nicht wirklichkeitsfremd. Die Ausbrüche in der arabischen Welt 2011 waren auf Würde und demokratische Verfassungen gerichtet. Sie sind pervertiert und unterdrückt worden. Das aber ist nicht das Ende der Bestrebungen. Gesucht ist der Ausweg aus der chaotischen Situation. Da kann Europa Hilfestellung leisten – politisch und wirtschaftlich.

Zu Recht sucht die europäische Diplomatie einen Weg, gegen die Politik der USA konstruktive Beziehungen mit Iran zu erhalten. In Teheran werden die Signale verstanden. Die saudische Führung  musste erfahren, was es heißt, auf die großsprecherischen Verheißungen des amerikanischen Präsidenten zu bauen. Ankara sucht in der Krise, in die die Türkei geraten ist, wieder die Annäherung an Europa. Und Israel muss sich fragen, ob es zukunftweisender ist, einem Irrlicht aus Washington zu folgen oder die Zukunft des Landes in einem politischen und wirtschaftlichen euro-nahöstlichen Raum zu gestalten, in dem es – nach einer verhandelten Lösung der palästinensischen Frage - in vielfältiger Weise eine starke Rolle spielen kann.

Udo Steinbach